Film- und Fernsehanalyse. Lothar Mikos

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Film- und Fernsehanalyse - Lothar Mikos

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genau wissen, was gute Freunde oder Nachbarn auszeichnet, und dass sich in dem Verhältnis zu den Serienfiguren offenbar ähnliche Merkmale wiederfinden. Es gibt ein lebensweltliches Wissen darüber, was die soziale Rolle »Nachbar« bzw. »guter Freund« in einem bestimmten kulturellen Kontext ausmacht. Dieses Wissen wird sowohl von Zuschauern, die Serienfiguren als Nachbarn oder gute Freunde bezeichnen, angewendet als auch von Kritikern und Wissenschaftlern, die das Verhältnis von Zuschauern zu den Fernsehfiguren mit diesen Begriffen kennzeichnen. David Bordwell (1992, S. 13 f.) hat Personen- und Rollenschemata, die auf Handlungsträger im Film bezogen werden, als ein wesentliches Element von Kognition und Verstehen herausgearbeitet. Das Personal in Film- und Fernsehtexten steht immer in Bezug zu den jeweiligen Vorstellungen von Selbst und Identität sowie zu dem Wissen über Personen- und Rollentypisierungen, das im Rahmen spezifischer kultureller Kontexte in den lebensweltlichen Zusammenhängen zirkuliert.

      Wenn von einem Verständnis von Film und Fernsehen als Kommunikationsmedien ausgegangen wird, dann ist für die Film- und Fernsehanalyse ein entscheidendes Moment, dass die Inszenierung von Figuren und Akteuren nicht nur für Kognition und Verstehen von Bedeutung ist, sondern gerade auch für die emotionalen Prozesse in der Rezeption und Aneignung. Die für die Analyse wichtigen Ansätze werden in Kapitel 3 in Teil II ausführlicher dargestellt. Vor allem über die Figuren und Akteure wird das Verhältnis von Nähe und Distanz der Zuschauer zum Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm bestimmt. In der Analyse muss daher herausgearbeitet werden, über welche Beziehungsangebote die Film- und Fernsehtexte dieses Verhältnis zwischen Figuren bzw. Akteuren und Zuschauern vorstrukturieren. Denn die Beziehungen, die Zuschauer zu Filmfiguren und Fernsehakteuren aufbauen, spielen nicht nur bei der Identitätsbildung eine wesentliche Rolle, sondern sind auch für das Fanverhalten und die sozial-kommunikative Konstruktion von Filmstars und Fernsehpersönlichkeiten bedeutsam.

      Die Faszination von Filmen und Fernsehsendungen gründet vor allem auch darin, dass es sich um Medien des bewegten Bildes handelt. Einzelbilder werden auf spezifische Weise gestaltet und zu einem Bilderstrom zusammengefügt. Die Geschichten, die in den Köpfen der Zuschauer entstehen, basieren mit auf dem Wissen um filmische und televisionäre Darstellungsmittel und Gestaltungsweisen (vgl. Ohler 1994, S. 36 f.), das wiederum eng mit dem narrativen Wissen verknüpft ist. Es ist also nicht nur wichtig, was dargestellt wird, sondern auch wie es dargestellt wird. In der Filmwissenschaft wird in diesem Zusammenhang vom Diskurs des Films (vgl. Chatman 1993, S. 146 ff.; Tolson 1996, S. 41 f.), von der Filmform (vgl. Rowe 1996), vom Stil (vgl. Belton 1994, S. 41 ff.; Bordwell 2001; Bordwell/ Thompson 2013, S. 112 ff.) oder – im Zusammenhang mit dem Fernsehen – auch von Rhetorik (vgl. Mikos 1994, S. 134 ff. und 2001a, S. 186 ff.; Silverstone 1988) gesprochen. Die spezifischen filmischen und televisionären Darstellungsmittel binden die Zuschauer während der Rezeption eines Films oder einer Fernsehsendung an das Geschehen auf der Leinwand oder dem Bildschirm. Über sie werden die Zuschauer vor allem emotional durch die Erzählung geführt, sie werden in bestimmte Stimmungen versetzt, ihre Aufmerksamkeit wird auf einzelne Aspekte im Film- oder Fernsehbild gelenkt, ohne dass ihnen dies immer bewusst ist. Auf diese Weise werden sie in die Perspektiven der Erzählung und der Repräsentation eingebunden. Im Rahmen einer Analyse gilt es nun, gerade diese Aspekte herauszuarbeiten und sie in Beziehung zum Wissen der Zuschauer über filmische Darstellungsweisen zu setzen, um zur Bewusstmachung dieses Prozesses beizutragen. Die Gestaltungsmittel können auch für die Analyse von Inhalt und Repräsentation, Narration und Dramaturgie sowie der Figuren und Akteure zentral werden. Denn die formalen und stilistischen Gestaltungsmittel bewegter Bilder positionieren die Zuschauer zum Geschehen und machen die Erlebnisqualität von Filmen und Fernsehsendungen aus.

      Die Gestaltungsweisen beruhen auf Konventionen der Darstellung. Das bedeutet, dass sie gelernt werden können und das Wissen um sie zur Routine, zum Teil des praktischen Sinns werden kann. Die Prozesse, die bei der Film- und Fernsehrezeption in Bezug auf die Darstellungsweisen ablaufen, können vorbewusst und teilweise unbewusst sein. Eine Analyse kann diese Prozesse bewusst machen, doch wird dies nicht dazu führen, dass sie auch in der konkreten Rezeptionssituation bewusst werden. Wer sich mit seinem Wissen auf einen Film oder eine Fernsehsendung einlässt, wird sich weiterhin emotional durch das Geschehen leiten lassen, im Nachhinein jedoch genauer sagen können, warum der Film eine gewisse Faszination ausgeübt hat.

      Filmische Darstellungs- und Gestaltungsweisen dienen vor allem dazu, die Zuschauer in bestimmte Stimmungen zu versetzen. So spielen beispielsweise Komödien in hellen, großzügigen Räumen, während sich die Figuren in Psychothrillern in engen, dunklen Räumen bewegen müssen. Zugleich werden mit den Gestaltungsmitteln bei den Zuschauern Erwartungen hinsichtlich des weiteren Geschehens geweckt. Konventionen der Darstellung und Gestaltung beruhen auf ihrem häufigen Einsatz in Filmen und Fernsehsendungen und den damit verbundenen Lernerfahrungen der Zuschauer. Wenn z.B. Der Entscheidungswalk in der Castingshow »Germany’s Next Topmodel« stattfindet, sitzt die Jury auf einer kleinen Bühne und hat den Laufsteg im Blick. Die Kamera zeigt anschließend den Anfang des Laufstegs, und die Zuschauer erwarten nun, dass eine der Kandidatinnen dort auftaucht, um mit ihrem »Walk« zu beginnen. Oder es ist z.B. in einer Filmszene eine Frau zu sehen, die eine Straße entlangläuft, sie schaut sich manchmal um und macht einen gehetzten Eindruck, sie wird offenbar verfolgt. Die Kamera zeigt sie zunächst schräg von hinten, dann von der Seite; sie schaut zurück, und die Kamera folgt ihrem Blick. Schließlich übernimmt die Kamera ihren Blick nach vorn, und der Zuschauer sieht aus ihrer Sicht, wie sie auf eine Hausecke zuläuft. Nun erwartet er, dass hinter der Hausecke jemand erscheint, den sie dort nicht erwartet. Ist die Frau vorher als Identifikationsfigur aufgebaut worden, wird der Zuschauer in diesem Moment Angst empfinden, da er mit ihr mitfühlt oder Angst um sie hat. Mit dieser durch die Darstellungsweise erzeugten gespannten Erwartung werden die Zuschauer in psycho-physiologische Erregung versetzt, der Film zieht sie in seinen Bann. Ein »guter« Film lässt die Zuschauer kognitiv und emotional aktiv werden. Er gönnt ihnen zwar auch mal Ruhepausen, doch am Ende gibt er ihnen das Gefühl, zum Filmerlebnis ihren Teil beigetragen zu haben. Dabei kann die Gestaltungsweise des Films auch zu Überbeanspruchung und damit verbundenen Erschöpfungszuständen führen. Als Beispiele mögen hier »Batman Forever«, die »Herr der Ringe«- und die »Hobbit«-Trilogie oder »Natural Born Killers« dienen, ein Film, der mit grellen Farben, schnellen Schnitten, zahlreichen Spezialeffekten und lauter Musik arbeitet und damit an die Grenzen der gewohnten Wahrnehmungsweisen geht (vgl. Mikos 2002b).

      Die Feststellung, dass Filme und Fernsehsendungen aus bewegten Bildern bestehen, ist nicht ganz richtig, denn tatsächlich setzen sie sich aus unbeweglichen Einzelbildern zusammen, die von den Zuschauern als bewegte Bilder wahrgenommen werden. Jedes einzelne Film- oder Fernsehbild bildet nicht nur etwas ab und stellt etwas dar, sondern ist in einer ganz spezifischen Art und Weise gestaltet. Das trifft nicht nur auf erfundene, fiktionale Geschichten zu, sondern auch auf abgebildete Realität. Jede Wiedergabe von Realität stellt nur einen Ausschnitt dar und ist durch die Technik und die spezifischen Darstellungsmöglichkeiten der Medien geformt. Auf diese Weise wird nicht nur »gesamtgesellschaftliche Komplexität […] auf das durch die Medien vermittelbare Maß reduziert« (Eurich 1980, S. 136), in einzelnen Film- und Fernsehbildern wird auch die Komplexität des Dargestellten auf das Darstellbare reduziert, es bleibt ein Rest – das Unsichtbare, das jedem Bild anhaftet. Dieses Unsichtbare kann aber wiederum durch spezifische Gestaltungsweisen wahrnehmbar gemacht werden. Darauf zielten bereits der Bühnenaufbau beim Theater und auch die Inszenierung von Filmen oder Fernsehsendungen ab. Seit der Erfindung des Tonfilms können den Bildern Töne, Geräusche, Sprache, Musik hinzugefügt werden. Die Kamera kann durch verschiedene Einstellungsgrößen und Bewegungen das Ihre zur Inszenierung beitragen. Für den Gesamteindruck eines Films ist wichtig, wie die einzelnen Filmbilder montiert sind, und für eine Fernsehsendung ist es nicht unerheblich, wie die Bildregie die einzelnen Kamerabilder zusammenfügt. Doch auch wenn die Medien die Komplexität der wirklichen Welt reduzieren, sind Film- und Fernsehbilder an sich ausgesprochen komplex.

      Aufgrund dieser Komplexität

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