Film- und Fernsehanalyse. Lothar Mikos
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Dabei ist zu berücksichtigen, dass es in der Kommunikation zwischen audiovisuellen Werken und Zuschauern nicht nur um Bedeutungsbildung geht. Darauf hat auch James B. Twitchell (1992, S. 203) hingewiesen, der in Bezug auf das Fernsehen kritisch angemerkt hat, dass sich die Auseinandersetzung mit diesem Medium vor allem auf die Inhalte konzentriert hat, nicht aber auf das Fernsehen als Erlebnis. Rituelles Fernsehen als Tätigkeit eines zuschauenden Subjekts erschöpft sich im Akt des Sehens selbst und zielt nicht auf eine Bedeutungsproduktion anhand gesendeter Inhalte ab. Das Sinnhafte der Tätigkeit ist nur aus den sozialen Kontexten zu erschließen, in die sie eingebettet ist. Allerdings sind frühere Erfahrungen mit dem Fernsehen bereits im Ritual selbst kondensiert.
Die Film- und Fernsehanalyse muss davon ausgehen, dass die zu untersuchenden Gegenstände (Filme und Fernsehsendungen) eine Kommunikation mit ihren Zuschauern eingehen. Das geschieht auf zweifache Weise: Einerseits werden sie von Zuschauern betrachtet bzw. rezipiert, andererseits werden sie von Zuschauern benutzt bzw. angeeignet. Meines Erachtens ist es wichtig, diese Unterscheidung zwischen Rezeption und Aneignung zu treffen, denn dadurch wird ermöglicht, die konkrete Interaktion zwischen einem Film und seinen Zuschauern analytisch von der weiteren Aneignung des Films, z.B. im Gespräch mit Freunden und Bekannten, zu trennen. Mit Rezeption ist die konkrete Zuwendung zu einem Film oder einer Fernsehsendung gemeint. In der Rezeption verschränken sich die Strukturen des Film- oder Fernsehtextes und die Bedeutungszuweisung sowie das Erleben durch die Zuschauer. Es findet eine Interaktion zwischen den Film- und Fernsehtexten und den Zuschauern statt (vgl. Hackenberg 2004; Höijer 1992a und 1992b). Der aktive Rezipient erschafft in der Rezeption den sogenannten rezipierten Text (vgl. auch Mikos 2001a, S. 71 ff.; Mikos 2001b, S. 59 f.), der gewissermaßen die konkretisierte Bedeutung des »Originaltextes« darstellt. Der rezipierte Text ist der Film, den der Zuschauer gesehen hat, der mit seinen Bedeutungszuweisungen und seinen Erlebnisstrukturen angereicherte Film. Er ist das Ergebnis der Interaktion zwischen Film- oder Fernsehtext und Zuschauer. Mit Aneignung ist dagegen die Übernahme des rezipierten Textes in den alltags- und lebensweltlichen Diskurs und die soziokulturelle Praxis der Zuschauer gemeint. Eine Fernsehsendung kann Gegenstand weiterer Interaktionen und Handlungen sein, wenn sie z.B. dazu dient, in der Mittagspause am Arbeitsplatz ein Gespräch zu eröffnen. Menschen benutzen Filme und Fernsehsendungen sowohl zur Gestaltung ihrer eigenen Identität als auch zur Gestaltung ihre sozialen Beziehungen. Die Unterscheidung zwischen Rezeption und Aneignung ist analytischer Natur, empirisch sind sie als Handlungen der Zuschauer nicht zu trennen. Warum nun sind Rezeption und Aneignung für die Analyse von Filmen und Fernsehsendungen wichtig?
Für die Beantwortung dieser Frage muss man sich über die Beschaffenheit der Film- und Fernsehtexte klar werden. Wenn sich, wie es Angela Keppler (2001, S. 131) formuliert hat, im medialen Produkt »die Perspektiven der Produktion und der Rezeption auf eine bestimmte Weise« treffen, ist es Aufgabe der Analyse herauszufinden, auf welche Weise dies genau geschieht. Aus einer rezeptionsästhetischen Perspektive können dann nicht nur die »Medieninhalte als Kommunikationsangebote« (ebd.) verstanden werden, sondern das gesamte symbolische Material der Fernsehsendungen und Filme, also auch Narration und Dramaturgie sowie die gestalterischen Mittel, mit denen die Aufmerksamkeit der Zuschauer erregt werden soll. Film- und Fernsehtexte werden in diesem Zusammenhang als Anweisungen zur Rezeption und Aneignung verstanden. Die Texte enthalten Handlungsanweisungen für die Zuschauer (vgl. Mikos 2001a, S. 177 ff.) und strukturieren auf diese Weise deren Aktivitäten vor. »Nicht das Medium ist die Message, sondern seine Rolle in der sozialen Anwendung« (Hienzsch/Prommer 2004, S. 148). Film – und auch Fernsehen – kann daher als soziale Praxis gesehen werden (vgl. Turner 2006). Das heißt nicht, dass Film- und Fernsehtexte die Rezeption durch die Zuschauer determinieren. Sie machen lediglich Angebote, die von den Zuschauern genutzt werden können, indem sie sich auf eine Interaktion mit dem jeweiligen Text einlassen. John Fiske (2011, S. 95 f.) spricht aus diesem Grund auch nicht von Texten, sondern von ihrer »Textualität« bzw. von produzierbaren Texten. Damit ist gemeint, dass die Film- und Fernsehtexte nach einer Vervollständigung durch die Zuschauer verlangen, sie werden erst im Akt der Rezeption und Aneignung produziert. Nach diesem Verständnis können Filme und Fernsehsendungen auch keine abgeschlossenen Bedeutungen an sich haben, die z.B. Film- oder Fernsehwissenschaftler in einer Analyse »objektiv« freilegen könnten, sondern sie entfalten ihr semantisches und symbolisches Potenzial erst durch die aktiven Zuschauer, d.h., sie können lediglich potenzielle Bedeutungen haben, sie bilden eine »semiotische Ressource« (Fiske).
»Vielleicht favorisiert ein Text manche Bedeutungen, er kann auch Grenzen ziehen, und er kann sein Potential einschränken. Andererseits kann es auch sein, daß er diese Präferenzen und Grenzen nicht allzu effektiv festschreibt« (Fiske 1993, S. 12 f.).
Film- und Fernsehtexte können also nur Angebote machen und mögliche Lesarten inszenieren, über die sie die Aktivitäten der Zuschauer vorstrukturieren. Eines können sie aber nicht: Sie können nicht die Bedeutung festlegen. Sie funktionieren als Agenten in der sozialen Zirkulation von Bedeutung und Vergnügen, denn sie können ihr Sinnpotenzial nur in den sozialen und kulturellen Beziehungen entfalten, in die sie integriert sind: »Texte funktionieren immer im gesellschaftlichen Kontext« (ebd., S. 13). Erst da kommt ihre strukturierende Kraft zum Tragen. Die Aneignung von populären Texten wie Filmen und Fernsehsendungen ist nach Fiske am Schnittpunkt von sozialer und textueller Determination lokalisiert. Damit wird auch deutlich, dass sich Texte immer im Feld sozialer Auseinandersetzung befinden (vgl. Mikos 2001c, S. 362). Für die Analyse heißt dies, dass die Struktur von Filmen und Fernsehsendungen zu den Rezeptions- und Aneignungsaktivitäten in Bezug gesetzt werden muss. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die strukturierende Kraft der Film- und Fernsehtexte in der Rezeption stärker ist als in der Aneignung, in der die soziokulturellen Kontexte, in die die Zuschauer eingebunden sind, wirksamer sind. Daher stehen die Rezeptionsaktivitäten im Vordergrund der folgenden Ausführungen, Aneignungsaktivitäten werden dort, wo es sinnvoll erscheint, in die Betrachtungen einbezogen.
Film- und Fernsehtexte sind grundsätzlich an ein Publikum gerichtet. Daher sind sie zum Wissen, zu den Emotionen und Affekten, zum praktischen Sinn und zur sozialen Kommunikation der Rezipienten hin geöffnet.
Es lassen sich also vier Arten von Aktivitäten unterscheiden, die in der Rezeption und Aneignung eine Rolle spielen:
– kognitive Aktivitäten
– emotionale und affektive Aktivitäten
– habituelle und rituelle Aktivitäten
– sozial-kommunikative Aktivitäten
Sie alle sind an zwei grundlegende Modi Operandi gebunden, die den Umgang mit den Film- und Fernsehtexten ausmachen: das Film- und Fernsehverstehen und das Film- und Fernseherleben. In der Analyse geht es vor allem darum, diese Prozesse des Verstehens und Erlebens herauszuarbeiten. Film- und Fernsehverstehen meint, anhand eines audiovisuellen Produkts zu untersuchen, wie es sich als bedeutungsvoller Text, der in den kulturellen Kreislauf von Produktion und Rezeption eingebunden ist, konstituiert (vgl. Mikos 1998, S. 3). Dazu müssen jedoch auch die lebensweltlichen Verweisungszusammenhänge einbezogen werden. Film- und Fernseherleben meint eine eigene Zeitform mit eigenen Höhepunkten, »in denen das zu kulminieren scheint – sowohl das, das es auf der Leinwand zu besichtigen gilt, wie auch das Erleben selbst« (Neumann/Wulff 1999, S. 4). Die Zuschauer