Max Weber. Volker Kruse
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Um 1890 ändert sich die kulturelle Großwetterlage. Zwar verschwindet der Fortschrittsoptimismus, gespeist durch technische Innovationen und imperiale Erfolge, nicht, aber in bürgerlichen, insbesondere in intellektuellen Schichten macht sich daneben eine andere Stimmung breit. Es ist die Zeit, in der sich der moderne Kapitalismus mit all seinen Begleiterscheinungen augenfällig durchsetzt, Großstädte mit großen Arbeiterquartieren wie Pilze aus dem Boden schießen und Großorganisationen an Bedeutung gewinnen. Dies alles wirft Fragen auf: Sind die Massen – oder die Menschen in der Masse – wirklich vernünftig und rational oder sind sie nicht eher unberechenbar, irrational und triebgesteuert? Geht mit der städtischen Zivilisation nicht der Bezug zur Natur verloren? Schafft die Moderne wirklich Freiheit oder bedeutet das Leben in der Großorganisation nicht eher Zwang? Welch einen Typus von Mensch bringen die neuen Lebensformen hervor? Führt die moderne Zivilisation, wie z. B. Emile Durkheim befürchtet, zur »Anomie«?
Diese Stimmung bringt besonders der Philosoph Friedrich Nietzsche (1844–1900) zum Ausdruck, der die Tugenden eines saturierten, selbstzufriedenen Bürgertums kritisiert und in heroisierender Manier die »Umwertung aller Werte« fordert. Nietzsche propagiert Stärke (als Selbstzweck), Aristokratismus und Schönheit. Der Wert einer Kultur bemesse sich nicht nach dem Durchschnitt, sondern nach den höchsten Exemplaren des Menschentums. Entsprechend forderte er den »neuen Menschen« bzw. »Übermenschen«. Er distanziert sich vom Fortschrittsoptimismus des 18. und 19. Jahrhunderts und sieht die Gegenwart von einer tiefen Krise der europäischen Kultur bestimmt. Ausdruck dieser Kulturkrise sind für Nietzsche unter anderem die Arbeiterbewegung, der Sozialismus und die Sozialpolitik. Er stellt ebenso das Christentum, immer noch die kulturelle Leitfigur der Zeit, radikal in Frage, aber auch den zunehmend arbeitsteiligen, sich spezialisierenden Wissenschaftsprozess, besonders den »antiquarischen« Charakter historischer Forschung, welche die aktuellen Lebensfragen ignoriere.
[20]Weber teilt das Unbehagen an der Moderne und bringt es in eindringlichen Worten zum Ausdruck. »Fachmenschen ohne Geist, Genussmenschen ohne Herz«, »eisernes Gehäuse der Hörigkeit«, »Käfig« – so charakterisierte er den modernen Menschen und seine Welt (vgl. Kap. 6.5). Er schätzt Nietzsches Bedeutung hoch ein. Überhaupt bestimmen aus seiner Sicht Marx und Nietzsche das geistige und wissenschaftliche Leben seiner Zeit.
Max Weber über die Bedeutung von Marx und Nietzsche
»Die Redlichkeit eines heutigen Gelehrten, und vor allem eines heutigen Philosophen, kann man daran messen, wie er sich zu Nietzsche und Marx stellt. Wer nicht zugibt, dass er gewichtigste Teile seiner eigenen Arbeit nicht leisten könnte, ohne die Arbeit, die diese beiden getan haben, beschwindelt sich selbst und andere. Die Welt, in der wir selber geistig existieren, ist weitgehend eine von Marx und Nietzsche geprägte Welt.« (überliefert vom Neffen Eduard Baumgarten 1964, S. 554 f.)
Weber versteht seine kritische Einstellung zur Moderne allerdings als persönliches Werturteil, über das mit den Mitteln der Wissenschaft nicht entschieden werden könne. Vor allem aber betont er, im Gegensatz zu vielen kulturkritisch Bewegten, dass der moderne industrielle Kapitalismus samt der ihm innewohnenden Lebensformen nicht rückgängig gemacht werden könne. Neoaristokratische und neoromantische Strömungen seiner Zeit, etwa der Kreis um den Dichter Stefan George, erscheinen ihm daher illusionsbehaftet, soziologisch unaufgeklärt und auf Dauer dem Untergang geweiht.
Weber macht sich die Kritik Nietzsches an den historischen Wissenschaften zu eigen. Er ist ebenfalls der Ansicht, dass diese Gefahr liefen, zunehmend antiquarisch und lebensfremd zu werden. Oberstes Ziel seines Konzepts einer historischen Sozialwissenschaft [21]ist es daher, den Weg zu einer »lebensbedeutsamen« Wissenschaft zu weisen. Sie soll ausgehen von den Werten der Gesellschaft und des Wissenschaftlers und damit das in den Fokus nehmen, was wirklich wichtig erscheint, wie z. B. der moderne Kapitalismus (vgl. Kap. 2).
Politische Positionen Max Webers
Machtpolitik und wirtschaftliche Interessen der deutschen Nation als Leitwert
Modernisierung des politischen Systems vom monarchischen Konstitutionalismus hin zur parlamentarischen Demokratie, um imperiale Interessen des Deutschen Reichs rational verfolgen zu können
Moderne kapitalistische Industriegesellschaft als Entwicklungsperspektive des Deutschen Reichs
Aktive Sozialpolitik, um innere Spannungen abzubauen und eine Konzentration der Kräfte auf die imperiale Konkurrenz zu gewährleisten
1.3 Das wissenschaftliche Werk Max Webers – Ein Überblick
Das komplexe, Disziplinengrenzen überschreitende Werk Webers lässt sich im Sinne einer systematisierenden Einführung in folgende Arbeitsbereiche untergliedern (vgl. Kaesler 2003):
rechtsgeschichtliche Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Antike und des Mittelalters,
empirische Untersuchungen im Auftrag des Vereins für Sozialpolitik, die die wirtschaftliche und gesellschaftliche Lage des wilhelminischen Kaiserreichs betreffen,
methodologische Arbeiten zur konzeptionellen Begründung historisch-sozialwissenschaftlicher Forschung,
religionssoziologische Arbeiten,
soziologische Arbeiten in systematisierender Absicht (Wirtschaft und Gesellschaft),
Beiträge zur politischen Publizistik.
1.3.1 Rechtsgeschichtliche Studien
Im Hinblick auf Webers rechtsgeschichtliche Arbeiten sind zunächst dessen wissenschaftliche Qualifikationsarbeiten hervorzuheben. Bereits in diesen Schriften wird sein sozial-ökonomisches Interesse an der Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaftsform deutlich.
In seiner Dissertation Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter (1889) untersucht Weber die rechtlichen und sozioökonomischen Begleitumstände der historischen Entwicklung des Kapitalismus. Ihn interessiert insbesondere die Frage, welche römischen und germanischen Rechtsvorstellungen die Trennung von Familienund Betriebsvermögen beeinflusst und zur Herausbildung der kapitalistischen Handelsgesellschaften im späten Mittelalter beigetragen haben. Im Rahmen seiner agrarhistorisch-juristischen Habilitation Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatrecht (1891) behandelt er den Zusammenhang zwischen dem römischen Agrarkapitalismus und der rechtlichen Institution des Privateigentums. Anhand des politisch umkämpften Rechtsinstituts des »öffentlichen Landes« sucht Weber den Wandel vom Gemein- zum Privateigentum historisch nachzuzeichnen. Diese rechtshistorischen Forschungsergebnisse stellt er in seinem 1896 veröffentlichen [22]Aufsatz Die sozialen Gründe des Untergangs der antiken Kultur in umfassendere historische Zusammenhänge.
Weber vertritt die These, dass der Untergang des römischen Weltreichs im Zuge der Einfälle germanischer Barbaren nicht durch die Dekadenz