Grundkurs Soziologie. Hans Peter Henecka

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Grundkurs Soziologie - Hans Peter Henecka

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als einem dynamischen System entwickelt, das sich im Gleichgewicht hält oder zumindest immer wieder zum Gleichgewicht tendiert, – eine Vorstellung, die dann von der modernen Systemtheorie wieder aufgenommen wurde und auf die wir später noch zu sprechen kommen (vgl. Abschnitt 3.2).

       Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

      Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Vilfredo Pareto«, S. 96-175). Kiepenheuer & Witsch: Köln.

      Maurizio Bach (2007): Vilfredo Pareto. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 331–337. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.

      Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Vilfredo Pareto«, S. 385–392). Westdt. Verlag: Opladen.

1.5.3.4Emile Durkheim

      Der französische Soziologe Emile Durkheim, der übrigens als erster Soziologe überhaupt 1896 in Bordeaux einen eigens eingerichteten Lehrstuhl für Soziologie und Pädagogik erhielt und dann ab 1902 an der Sorbonne in Paris lehrte, betont schließlich – ähnlich wie Simmel – die Bedeutung der Gruppe bzw. des Kollektivs für das soziale Handeln. Er will das soziale Handeln wie »Tatsachen« betrachten, die außerhalb des Individuums liegen, eine »Wirklichkeit eigener Art« darstellen und als Ausdruck »kollektiver Vorstellungen« von äußeren Zwängen, Verpflichtungen, Geboten, Sitten u. Ä. bestimmt werden: »Weit davon entfernt, ein Erzeugnis unseres Willens zu sein, bestimmen sie ihn von außen her; sie bestehen gewissermaßen aus Gussformen, in die wir unsere Handlungen gießen müssen« (Durkheim 1961, 226). Durch die mehr oder weniger von außen auferlegten Zwänge wird soziales Handeln zu einem »soziologischen Tatbestand« (»fait social«).

      Da er davon ausgeht, dass sich gesellschaftliche Vorgänge nicht auf individualpsychologische Phänomene reduzieren lassen und er vielmehr »Soziales nur durch Soziales erklären« will, legt er dem Sozialen ein solches Gewicht bei, dass er sich dem Vorwurf des »Soziologismus«, d. h. der einseitigen Betonung der gesellschaftlichen Bedingtheit und Abhängigkeit menschlichen Denkens und Handelns, ausgesetzt sah.

      Für Durkheim ist eine soziale Gruppe oder auch die Gesellschaft immer mehr als die Summe ihrer Teile, d. h. mehr als die Summe ihrer individuellen Mitglieder. Dieses »Mehr« bezeichnet er als »kollektives Bewusstsein«, das zugleich so etwas wie das Gewissen der Gruppe ist und sich als eine moralische, sittliche oder religiöse Kraft niederschlägt, die in ihren Wirkungen deutlich bei den Individuen der jeweiligen Gruppe (z. B. im Bereich der Sozialisation und Erziehung) nachweisbar sei.

      Die gesellschaftliche Entwicklung folgt nach Durkheim einer sozialen Evolution, die von der auf der Gemeinsamkeit von Ideen, Gefühlen und Traditionen beruhenden »mechanischen Solidarität« der Menschen in einfacheren Gesellschaften sich zu einer »organischen Solidarität« der Menschen in zivilisierten und industrialisierten Gesellschaften gewandelt habe und die hier vor allem auf der hoch entwickelten Arbeitsteilung, der weitgehenden Differenzierung der Persönlichkeiten und dem Vorherrschen vertraglicher Beziehungen beruhe.

      Die Erschütterung und den Zusammenbruch der Gruppenmoral und damit der sozialen Ordnung nennt Durkheim »Anomie«, deren differenziertes Ausmaß er exemplarisch anhand von Selbstmordraten in seiner Theorie des Selbstmords (Le Suicide, 1897) empirisch zu belegen und zu klassifizieren versucht. Aus Überidentifikation mit Systemnormen kann so ein altruistischer Selbstmord resultieren, der am häufigsten in einfachen Gesellschaften und vorindustriellen Hochkulturen auftritt, wo sich das Individuum dem Kollektiv noch besonders stark verpflichtet fühlt. Der egoistische Selbstmord ist dagegen eher für die moderne Gesellschaft typisch, da in ihr bei hochgradiger Subjektivierung der Bindungen die kollektiven Integrationsleistungen eher schwach ausgeprägt sind. Der anomische Selbstmord (wie auch der fatalistische, den Durkheim allerdings nicht weiter behandelt) weist dagegen auf einen Zusammenbruch bisheriger Regelungen und sozialer Orientierungen hin, wie dies etwa bei wirtschaftlichen Depressionen oder bei Umbrüchen gesellschaftlich-politischer Systeme zu beobachten ist: Die bislang verlässliche Ordnung gilt nicht mehr und eine neue, sozial verbindliche Regulation ist noch nicht installiert, – Zustände, wie sie beispielsweise beim Zusammenbruch der sozialistisch-kommunistischen Ostblockstaaten in den 1990er-Jahren zu beobachten waren.

       Zur vertiefenden und ergänzenden Lektüre

      Raymond Aron (1971): Hauptströmungen des soziologischen Denkens. 2. Band. (Darin »Emile Durkheim«, S. 19–95). Kiepenheuer & Witsch: Köln.

      Raymond Boudon & François Bourricaud (1992): Soziologische Stichworte. Ein Handbuch. (Darin »Emile Durkheim«, S. 91–96). Westdt. Verlag: Opladen.

      René König (1976): Emile Durkheim. In Dirk Kaesler (Hrsg.), Klassiker des soziologischen Denkens. Bd. 1, S. 312–364, 401–444, 501–508. Beck: München.

      Hans-Peter Müller (2007): Emile Durkheim. In Dirk Kaesler & Ludgera Vogt (Hrsg.), Hauptwerke der Soziologie. S. 90–111. 2. Aufl. Kröner: Stuttgart.

      *

      Der knappe Exkurs in die Soziologiegeschichte zeigt uns, dass Soziologie in der Krise der modernen Gesellschaft ihren Ausgang genommen hat: In den tiefgreifenden Wandlungsprozessen und rapiden Veränderungen, die in den letzten zwei bis drei Jahrhunderten vor allem die industrialisierten westlichen Gesellschaften erfasst haben und sich auf unseren Alltag unmittelbar oder mittelbar auswirken. Dazu gehören alle Merkmale der modernen sozialen Welt, wie die atemberaubenden wissenschaftlichen und technologischen Umbrüche, die gravierenden und folgenschweren Veränderungen unserer Arbeitswelt, die Art und Weise des Wohnens in zunehmend urbanisierten Umwelten, die Tendenzen zur umfassenden Informationsvernetzung und ökonomischen Globalisierung, der Zusammenbruch alter und das Aufkommen neuer politischer Systeme, aber auch die neuen Herausforderungen durch zu Ende gehende natürliche Ressourcen und durch Energiekrisen usw. All diese gesamtgesellschaftlichen Veränderungen erfassen auch die sozialen Subsysteme und Institutionen und wirken fort bis hinein in unsere private Lebensführung. Insofern wird Soziologie auch zu Recht als »Krisenwissenschaft« oder »Gegenwartswissenschaft« bezeichnet, da sie vor allem moderne, d. h. industrialisierte Gesellschaften mit ihren vielfältigen Wandlungsprozessen und deren Folgen systematisch analysiert.

      Im Laufe unserer weiteren Überlegungen werden wir immer wieder bestimmten Grundgedanken und theoretischen Perspektiven der Klassiker der modernen Soziologie begegnen. Die knappen Skizzen zu ihrem mehr oder weniger unterschiedlichen Verständnis von »sozialem Handeln« wie beispielsweise die wichtige Unterscheidung zwischen beabsichtigten, sozial »sinnhaften« und unbeabsichtigten Resultaten menschlichen Handelns und Verhaltens bei Max Weber sollten dabei zeigen, wie die Gründungsväter der modernen Soziologie dieses Konzept auch als Schlüssel zum Verstehen gesellschaftlicher Vorgänge und Zusammenhänge, gewissermaßen als Basiskategorie des Sozialen überhaupt begriffen. Damit haben diese Autoren das Interesse an den Grundelementen des Gesellschaftlichen zu wecken verstanden, an die sich seither die Forschung aus den verschiedensten Richtungen – fantasievoll und distanziert von vorgeformten Ideen und pauschalen Vorurteilen – heranzutasten sucht und dabei immer wieder zu neuen Entdeckungen und Befunden gelangt.

      Die wesentlichen Gesichtspunkte der unterschiedlichen Akzentuierungen und teilweise differierenden Perspektiven unserer Klassiker lassen sich etwas vereinfacht auch grafisch darstellen. Dies soll uns im Hinblick auf ihre zentralen und basalen Konzepte des »Sozialen« zur zusammenfassenden und abschließenden Anschauung dienen:

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