Geschichte der Utopie. Thomas Schölderle

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Geschichte der Utopie - Thomas Schölderle

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1. Juni wurde sie zur Königin gekrönt. Als Morus schließlich 1535 im Palast von Lambeth genötigt wurde, den Eid auf die neue Kirche zu leisten, verweigerte er den Schwur. Man warf ihn daraufhin in den Tower, machte ihm den Prozess und verurteilte ihn zum Tode mit den denkbar grausamsten Methoden. Sein Strafurteil sah vor, ihn durch Londons City zu schleifen, lebendigen Leibes sollte ihm das Geschlechtsteil abgeschnitten, der Bauch aufgeschlitzt, die Eingeweide herausgerissen und verbrannt werden. Danach sollte man ihn vierteilen und jedes der vier Teile auf einem der Tore Londons und sein Haupt auf der London Bridge zur Schau stellen. Morus blieb die Prozedur erspart, weil ihn der König in letzter Sekunde zum Tod durch Enthauptung begnadigte. Von der Hinrichtung sind allerdings keinerlei Äußerungen der Bitterkeit überliefert. Vielmehr kommentierte Morus das Hinrichtungszeremoniell mit Ironie. Zum Gouverneur des Towers soll er scherzend gesagt haben: „Helft mir bitte beim Hinaufsteigen, Master Kommandant, für mein Herunterkommen laßt mich selber sorgen.“ Seine letzten Worte, die über die Jahrhunderte hinweg inzwischen zum geflügelten Wort geworden sind, lauteten: „Ich sterbe als des Königs treuer Diener, doch Gottes zuerst.“23 Seit 1935 zählt ihn die katholische Kirche zu ihren Heiligen.

      Doch ausgerechnet dieser Mann, der für die Einheit der Kirche sein Leben opferte, hatte knapp zwei Jahrzehnte zuvor eine Schrift veröffentlicht, die mit seinem Märtyrertod völlig unvereinbar schien. In seiner Utopia von 1516 beschrieb Morus kein genuin christliches Gemeinwesen, sondern einen weitgehend heidnischen, rationalistischen und sozialistischen Staat. Der Widerspruch schien so unüberbrückbar, dass viele Kommentatoren kurzerhand einen tiefen Bruch in Morus’ Biografie unterstellten. Vom erzkonservativen Katholiken (Reinhold Baumstark) bis zum überzeugten Sozialisten (Ernst Bloch) reichte die Spanne, die die Auflösung des Rätsels mit dem Argument versuchte, Morus sei eben bis zur Abfassung der Utopia, oder zumindest während dieser Zeit, kein Christ im dogmatischen Sinne gewesen.24 Der Inhalt der Schrift schien Beweis genug, um den Verfasser als aufgeklärten, ja zutiefst antiklerikalen Gelehrten einzustufen. Diese Einschätzung ist jedoch schlechterdings falsch. Ein „heidnischer“ Morus ist zu keiner Sekunde seines Lebens und Schreibens überliefert. Bereits die frühen Jahre zeigen einen tieffrommen Menschen. Immerhin vier Jahre (1499–1503) lebte er, ohne ein Gelübde abzulegen, bei den Londoner Kartäusern. Die Entscheidung zugunsten einer bürgerlichen Laufbahn ist wohl auf zwei Faktoren zurückzuführen: die Rolle seines Vaters und das Eingeständnis, ungeeignet für den Zölibat zu sein. Erasmus schrieb, Morus wollte lieber ein reiner Ehemann als ein unkeuscher Priester sein.25 Morus aber blieb zeitlebens ein frommer Christ, der selbst der Askese gegenüber nicht abgeneigt war. Bis zu seinem tragischen Tod fastete und betete Morus zu regelmäßigen Zeiten und sein Schwiegersohn Roper berichtet, dass er heimlich „ein härenes Hemd auf der bloßen Haut“ trug und seinen Körper von Zeit zu Zeit „mit einer geknoteten Geißel“ kasteite.26 Auch Morus’ Schriften geben keinen Anlass, an seinem Katholizismus zu zweifeln. Ob in seinen Epigrammen oder den Übersetzungen des griechischen Satirikers Lukian (1505/06), ob in der frei übertragenen Biografie des Pico della Mirandola (1505) oder dem dramaturgischen Werk über die Geschichte Richard III. (1514) – immerzu tritt dort ein ebenso gottesfürchtiger, historisch interessierter wie politisch engagierter Humanist und Literat hervor. Bis zur Abfassung der Utopia (1515/16) spricht nichts für die These eines zeitweilig „unchristlichen“ Morus. Im Anschluss daran ist das noch weit weniger der Fall: Ab Mitte der 1520er-Jahre engagierte er sich mit theologischen Kontroversschriften vehement gegen reformatorisch gesinnte Zeitgenossen (Luther, Tyndale). Und die Zeit im Tower ist schließlich reich an christlicher Erbauungsliteratur, tröstlichen Briefen und frommen Gebeten. Wenn man also nicht behaupten will, dass Morus in den wenigen Monaten während der Abfassung der Utopia von einem „heidnischen Fieber“ befallen wurde, dann heißt das: Es steckt hinter der Utopia kein heidnischer Verfasser. Die genannten Urteile werfen daher vielmehr ein grelles Licht auf das methodisch höchst problematische Vorgehen, vom Inhalt des utopischen Entwurfs auf die persönliche Ansicht des Autors zu schließen. Auf dem Prüfstand steht damit aber noch weit mehr, nämlich zugleich, was gemeinhin fast als Synonym zur Utopie gilt: die Fiktion eines im Sinne des Autors idealen Gemeinwesens.

      Gleichwohl muss man sich auch davor hüten, die Utopia nur vor dem Hintergrund von Morus’ dramatischem Ende zu betrachten. Als er sie niederschrieb, stand das Ereignis der Reformation noch bevor. Diese Zäsur hat das geistige Klima in Europa nachhaltig verändert und die Fronten polarisiert. Auch Morus’ Reformeifer ist dadurch gemäßigter geworden.27 Eine Verbindung zwischen seinem Märtyrertod und seiner berühmtesten Schrift gibt es dennoch: Der Mensch, dem selbst im Augenblick des Todes der Humor nicht zu nehmen war, war auch zeitlebens ein ebenso ernsthafter wie heiter-ironischer Charakter. Und exakt in diese beiden Gesichter blickt man letztlich auch bei der Lektüre seiner Utopia. Vor allem das beständige Schwanken zwischen Ernst und Ironie ist einer der Hauptgründe für die beinahe groteske Palette der Interpretationsperspektiven.

      Nach Morus’ Seligsprechung (1886) und mehr noch nach der Kanonisation (1935) begannen in konservativ-katholischen Kreisen verstärkt Versuche, die „heidnische“ Utopia mit ihrem christlichen Autor vereinbar zu machen. Wollte man die Schrift nicht sogleich als Morus’ „größten Missgriff“28 werten, dann musste man sie zu einem rein ironischen Spiel, zu einem einzigen humanistischen Jux erklären.29 Völlig anders werteten allerdings die sozialistischen Vertreter die Schrift. Nicht als Scherz, sondern als Morus’ ganz persönlicher und sozialistischer Idealstaatsentwurf galt dort die Utopia. Der bekannte Sozialist Karl Kautsky hielt die Utopia für die wichtigste vorwissenschaftliche Version des modernen Kommunismus; und er war damit nur der erste Vertreter einer langen Reihe von Autoren, die keineswegs nur sozialistische Kommentatoren umfasste.30 Auffallend an den vielen Lesarten der Utopia – von denen hier nur zwei exemplarisch herausgegriffen wurden – ist allzu oft die Einseitigkeit bei der Beobachtung oder Betonung bestimmter Aspekte. Zudem hat sich die Forschungsliteratur inzwischen darin überboten, eine schier endlose Liste an möglichen Quellen oder Vorbildern zur Utopia zu erstellen, die nicht selten monokausal zur Entschlüsselung des Werkes dienten: Platons Politeia, die Gemeinschaft der Urchristen, Augustinus’ Gottesstaat, die Ironie Lukians, die römischen Satiriker Horaz und Juvenal, das Klosterleben, die Gattung der Fürstenspiegel oder Amerigos Reiseberichte – all diese Einflüsse und Quellen lassen sich problemlos nachweisen und je nach Blickwinkel wird man somit auch stets sozialistische, idealstaatliche, satirische, reformerische, heidnische, machtpolitische, moderne oder mittelalterliche Elemente in der Utopia finden. Doch für viele Lesarten gilt, was bereits Eberhard Jäckel 1955 mit Nachdruck kritisierte: Es mangelt ihnen selten an der Entdeckung neuer Momente, vielmehr kranken sie an Überbetonung oder Verabsolutierung.31

      Für eine dritte Gruppe ist die Utopia daher zunächst ein Zeugnis frühhumanistischen Denkens.32 Wenngleich viele Einzelfragen auch innerhalb dieser Perspektive offen und strittig geblieben sind, so verfügt der „humanistische“ Ansatz doch zumindest über den Vorteil, einen Einzelaspekt nie für das Ganze zu nehmen. Die Antwort auf die Frage nach der richtigen Interpretation der Utopia – und damit auch ein wichtiges Vorverständnis des Utopiebegriffs – lässt sich selbstredend nicht ohne Blick auf die Schrift selbst gewinnen.

      Rein formal handelt es sich bei der Utopia um einen literarischen Dialog, dessen Thema der „beste Staat“ ist. Ort der ausgesprochen dürftigen Handlung ist Antwerpen, eine der wichtigsten Handelsmetropolen Europas im frühen 16. Jahrhundert. Das Buch beginnt nachweislich autobiografisch: Morus befindet sich von Mai bis Oktober 1515 auf einer königlichen Gesandtschaft in Flandern, um dort über Handelsverträge zwischen englischen und niederländischen Kaufleuten zu vermitteln. Als die gegnerische Delegation vorübergehend abreist, um erneut ihre Auftraggeber zu konsultieren, nutzt Morus die Gelegenheit, den befreundeten Humanisten Peter Gilles in Antwerpen zu besuchen.

      Von hier ab verlässt die Erzählung den Boden der Tatsachen und geht in den Bereich der Fiktion über. Nach einem Gottesdienstbesuch trifft der Ich-Erzähler seinen Freund Peter Gilles, den Stadtschreiber von Antwerpen, den er in ein Gespräch mit einem

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