Geschichte der Utopie. Thomas Schölderle

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Geschichte der Utopie - Thomas Schölderle

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      Zusammengefasst heißt das: Keine der Figuren der Utopia ist eine eindeutige und geschlossene Gestalt. Im Laufe des Dialogs widersprechen sich die Figuren nicht nur gegenseitig, sondern mitunter sogar sich selbst. Auch trägt die formale Struktur dazu bei, dass keine Person eine argumentative Überlegenheit gewinnt. Bereits Hubertus Schulte Herbrüggen hat daher mit Recht darauf verwiesen, dass die Frage, welche der beiden Figuren die Ansicht des Verfassers repräsentiert, falsch gestellt ist. Vielmehr muss die Frage lauten: Welche Ansicht spricht aus dem Zusammen- und Gegenspiel der beiden Erzähler?53 Die spielerische Komplexität der Utopia erschließt sich also keineswegs auf Anhieb. Was beim ersten Lesen für leicht verständlich, eindeutig und unmittelbar einsehbar erscheint, das beginnt seine Wirkung oft erst zu entfalten, wenn man die Einzelteile des Werkes in Beziehung setzt und als Leser in einen „infiniten Prozeß des Auslegens, des Kombinierens und Abwägens hineingezogen wird.“ 54 Dieses diskursive Anliegen kennt gleichwohl einen roten Faden, der im Folgenden näher verdeutlicht werden soll.

      Man kann die Utopia als ein höchst ambivalentes „Lob der Vernunft“ auffassen. In enger und wohl auch durchaus gewollter Analogie zum Lob der Torheit seines Freundes Erasmus55 ist das Werk in gewisser Weise sogar eine Art Komplementärschrift. Sie lobt aber nicht wie Erasmus’ „Torheit“ – mal ernst, mal ironisch – die menschlichen Affekte und Leidenschaften, sondern ihren Widerpart: die Vernunft. Nichts existiert in Utopia, das nicht ausdrücklich rational erklärt wird oder sich zumindest rational erklären ließe. Bei genauerer Betrachtung wird zudem offenbar, dass es sich um eine ganz bestimmte Qualität der Vernunft handelt. Nicht weniger häufig, wie eine Einrichtung oder Sitte als vernünftig gelobt wird, ist zu hören, sie sei nützlich. Und für vernünftig halten die Utopier vor allem, was den Gesamtnutzen des Gemeinwesens maximiert. Die Utopia erprobt die utilitaristische Rationalität in allen gesellschaftlichen Bereichen – mit allen positiven, aber auch, was gerne übersehen wird, mit allen negativen Konsequenzen.

      Voraussetzung für das Vernunftexperiment ist zunächst die Isolation des Gegenstandes. Gleich zu Beginn des zweiten Buches berichtet Raphael deshalb, dass der Gründungsfürst Utopos vor 1760 Jahren die Halbinsel Abraxa vom Festland durch einen 15 Meilen breiten Graben abtrennen ließ.56 Zudem ist die Insel durch natürliche Hindernisse sowie künstliche Verteidigungsanlagen bestens geschützt. Um die Möglichkeit des experimentellen Erkundens zu gewährleisten und um die wirkenden Kräfte mit ihren kausalen Folgen beschreiben zu können, bedarf es offenbar einer Versuchsanordnung, die das Funktionieren des Systems von störenden Fremdeinflüssen isoliert.

      Der genaue geografische Ort der Insel bleibt ungeklärt. Man erfährt lediglich, dass Utopia jenseits der unwirtlichen Äquatorlinie und in der Nähe des neuen Kontinents liegt. Die eher begrenzten natürlichen Ressourcen sorgen bei den Utopiern für ein ausgesprochen instrumentelles Verhältnis zur Natur, das ganz auf ihre Verwertbarkeit gerichtet ist: Es dokumentiert sich beispielsweise darin, dass ganze Wälder von Menschenhand abgeholzt und mit Blick auf Ertrag und Transportverhältnisse an anderer Stelle wieder aufgeforstet werden.57 Auch die gesamte Infrastruktur betont die Funktionalität. Die Städte liegen nie weiter als einen Tagesmarsch voneinander entfernt. Die „Straßen sind zweckmäßig angelegt“, die Gehöfte auf dem Lande sind „planmäßig über die ganze Anbaufläche verteilt“ und das „Ackerland ist den Städten (…) zweckmäßig zugeteilt.“58 Die Hauptstadt Amaurotum heißt übersetzt so viel wie „Nebelstadt“ und ist damit eine deutliche Anspielung auf London. Doch mit den zeitgenössischen Städten hat Amaurotum nicht viel gemeinsam: Waren die historisch gewachsenen, frühneuzeitlichen Städte mit ihren verwinkelten Gassen und dicht an dicht gebauten Häusern stets ein Hort der Brandgefahr, des Schmutzes und der Epidemien, so verkörpern die utopischen Städte nachgerade das exakte Gegenteil: Die langen, ausladenden Straßen, die ausgebaute Trinkwasserversorgung und nicht zuletzt die geschilderten Glasfenster, anstelle der im 16. Jahrhundert üblichen Öl- und Wachstücher – all dies vermittelt nicht nur symbolisch ein Bild der Helligkeit und Fürsorge, sondern ist insbesondere Ausdruck eines ungebremsten Zutrauens in die Leistungsfähigkeit einer technisch-planerischen Vernunft. Es ist zudem ein deutliches Indiz für politische Modernität: Denn soziale Ordnung und politische Herrschaft gelten in Utopia ausschließlich als Menschenwerk; und wie sehr gerade die Insel Utopia ein menschliches „Kunstprodukt“ ist, das zeigt sich schon daran, dass sich ihre Existenz erst dem Abtragen gigantischer Landmassen verdankt.

      Im Bereich von Bildung, Erziehung und Wissenschaft drückt sich die Betonung des Rationalen zunächst in der hohen Wertschätzung alles Geistigen aus. Unermüdlich, so erzählt Raphael, seien die Utopier auf geistigem Gebiet. Während Würfel- und Kartenspiele, Faulenzerei und Ausschweifungen verpönt oder gar unbekannt sind, erfreuen sich die morgendlichen Vorlesungen stets einer großen Zahl von Zuhörern. Das Volk verrichtet körperliche Arbeit zwar grundsätzlich mit „der nötigen Ausdauer“ 59, doch zielt letztlich alles in Utopia darauf ab, dass so viel Zeit wie möglich für die geistige Bildung verbleibt. Denn darin, so heißt es, liegt „nach ihrer Meinung das Glück des Lebens.“ 60 Anders als später bei Francis Bacon, der die Wissenschaft vollständig dem Primat praktischer Verwertbarkeit unterwirft, trägt die Beschäftigung mit geistigen Dingen in Utopia Züge eines selbstzweckhaften Ideals und verlässt damit sichtlich die rein instrumentelle Perspektive. Gleichwohl bestehen die pädagogischen Institutionen nicht allein um ihrer selbst willen. Allen voran leisten sie einen wesentlichen Beitrag zur Verbrechensprävention. „Wenn ihr nämlich zulaßt“, so hatte Raphael bereits im ersten Buch kritisiert, „daß die Menschen grundschlecht erzogen und ihre Sitten von Kind auf allmählich verdorben werden, dass sie erst dann bestraft werden sollen, wenn sie als Männer die Schandtaten begehen, auf die sie von ihrer Kindheit an ständig hoffen ließen, was anderes, so frage ich, als Diebe züchtet ihr, um sie dann zu hängen?“ 61 In Utopia hat man solchen staatspolitischen Dummheiten längst Abhilfe verschafft. Raphaels Schilderung vermittelt vor allem das Bild, wonach die Menschen nicht von Natur zum Bösen bestimmt, sondern vielmehr durch schlechte Normen, schlechten Umgang und falsche Erziehung erst zu Kriminellen gemacht werden.

      Einem ausgesprochen positiven Vernunftbegriff folgt auch die Ethik der Utopier. Anders als später in der modernen Naturrechtslehre stehen allerdings nicht menschliche Würde oder vorstaatliche Rechte im Mittelpunkt, sondern die Frage, worauf „das Glück des Menschen“ beruhe. Die Antwort qualifiziert das ethische Konzept als ein weitgehend eudämonistisches Modell, denn ausdrücklich ist es die „Lust“, in der die Utopier „das menschliche Glück überhaupt oder doch dessen entscheidendsten Grund sehen.“ 62 Freilich ist das Glücks- und Luststreben keine wahllose Suche nach immer neuer und möglichst häufiger Befriedigung körperlicher Bedürfnisse. Plakativ formuliert: Morus’ Utopier sind Eudämonisten, nicht Hedonisten. Die falschen Bedürfnisse sollen den wahren Freuden nicht im Wege stehen. Als ein solch falsches Bedürfnis gelten den Utopiern zum Beispiel die Gier, sich wegen persönlichen Reichtums mit „eitlen und sinnlosen Ehrenbezeigungen“ 63 bewundern zu lassen. Was die Mehrzahl der Menschen für gewöhnlich begehrt – Schmuck, Kleider, Edelsteine, Ehre, Adel – all das hat nach Ansicht der Utopier mit dem wahren Wert der Dinge nichts gemein. Die Orientierung an der utilitaristischen Rationalität übertragen die Utopier daher auch auf die Wertigkeit natürlicher Ressourcen. „Nur (…) die Torheit der Menschen (hat) der Seltenheit einen besonderen Wert beigemessen. Die Natur dagegen hat wie eine gütige Mutter gerade das Beste am zugänglichsten gemacht: die Luft, das Wasser, den Ackerboden“ 64. Zur Gänze unbegreiflich ist den Utopiern folglich, weshalb „das von Natur aus so unnütze Gold heutzutage überall in der Welt so hoch geschätzt wird“ 65. Für diese verquere Logik haben die Utopier kaum mehr als Spott und Verachtung übrig. Bezeichnenderweise machen sie aus ihren Goldbeständen Ketten für die Gefangenen und Nachtgeschirr.66

      Das deutlichste Beispiel einer dezidiert utilitaristischen Ethik liefert schließlich das Institut der Euthanasie: Wenn dem menschlichen Leben keine Freude

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