Geschichte der Utopie. Thomas Schölderle

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Geschichte der Utopie - Thomas Schölderle

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hat sogar zur Folge, dass Atheisten und Materialisten von den Utopiern nicht zu ihren Staatsbürgern gezählt werden, ja „nicht einmal unter die Menschen“ 88. Bemerkenswert ist, dass auch Thomas von Aquin zu der analogen Überzeugung gelangt war, dass das „Dasein Gottes (…) durch die natürliche Vernunft (…) bekannt sein kann“ 89 und dass jeder vernünftige Mensch guten Willens zu erkennen vermag, dass Gott eins ist, vollkommen, unendlich, ewig und gut. Klar scheint damit, dass Morus im Religionskapitel der Utopia vor allem eine zentrale theologische Grundsatzfrage seiner Zeit erörtert hat, wobei die Kernaussagen weitgehend auf dem Boden der thomistischen Lehre stehen.

      Beim Blick auf die utopische Religion ist man letztlich also weit mehr geneigt, die erstaunlichen, allein rational ermittelten Übereinstimmungen zu christlichen Glaubensinhalten zu bestaunen, weniger hingegen die unvereinbaren Gegensätze. Gleichwohl sind und bleiben die Utopier – mangels Offenbarung – Heiden im streng theologischen Sinn des genannten Glaubensgrundsatzes; und natürlich hat sich der Christ Morus keinen heidnischen Staat als Ideal erträumt. Auch zahlreiche Praktiken, etwa das Frauenpriesteramt, die Euthanasie-Erlaubnis oder die Heirat der Priester sind letztlich inkompatibel mit dem Katholizismus. Der Sinn dieser Konstruktion lässt sich jedoch einigermaßen vollständig klären. Unterstellt man, dass Morus erstens den Verhältnissen im christlichen Europa einen kritischen Spiegel vorzuhalten versuchte, und dass er zweitens mit der Utopia diskutierte, wie weit die Vernunfterkenntnis selbst noch in Glaubensfragen trägt, dann ergibt sich daraus eine weitere Einsicht: Die Utopia ist ganz absichtsvoll heidnisch konzipiert, denn zum einen wäre das Vernunftexperiment angesichts vorbildlicher Christen überhaupt nicht mehr durchführbar gewesen; zum Zweiten gewinnt die Kritik fraglos an Deutlichkeit, wenn die Utopier gerade ohne die Gnade göttlicher Offenbarung in vielfacher Weise zu besseren Einrichtungen gelangen als die europäischen Christen. In diesem Sinn ist auffallend, dass auch der kritische Geist der Utopia selbst vor der zeitgenössischen Praxis der christlichen Religion nicht haltmacht. So heißt es – und dieser Schlag trifft mit Gewissheit die Geistlichen Europas: Die Priester Utopias seien allesamt frei gewählt, ausgesprochen fromm und durchweg hoch angesehen, sie besäßen außer ihrer ehrenvollen Stellung keinerlei Machtbefugnisse und daher gebe es in Utopia auch nur sehr wenige.90

      Der Sinn, der aus der Beschreibung der vernünftigen Religion der Utopier hervorgeht, lässt sich daher kaum mit blanker Unernsthaftigkeit erklären, geschweige denn mit dem Ideal eines Autors in einer heidnischen Lebensphase. Das Rätsel, das späteren Rezensenten eine scheinbar unlösbare Aufgabe hinterlassen hat, dient vielmehr den zentralen Intentionen der Schrift: der Kritik, dem rationalen Experiment und dem diskursiven Anliegen.

      Wenngleich der Abschnitt zur Religion der Utopier die Struktur des Gedankenexperiments hinreichend deutlich macht, so ist damit eine letzte Frage noch nicht geklärt. Das abschließende Kapitel wird deshalb versuchen, zentrale Aspekte und Konsequenzen für ein Utopieverständnis abzuleiten, wie es sich allein aus Morus’ Prototyp erschließt. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass dieser Bedeutungshorizont der einzig mögliche ist, aber es scheint doch von beträchtlichem Interesse, was „Utopie“ im Sinne ihres Namensgebers meint, oder anders formuliert: was sich aus der Schrift hierzu gerade nicht herleiten lässt.

      Die erste Frage richtet sich an ein gängiges Problem üblicher Utopiedefinitionen. Die Rede ist von der verbreiteten Tendenz, die Utopie im Kern als eine Idealstaatsschilderung des Autors zu kennzeichnen. In diesem Sinn ist Morus’ Utopia kein Idealstaat. Bei der dort vorherrschenden Religion handelt es sich, wie gezeigt, um einen rein vernunftbegründeten Glauben. Der heidnische Staat bleibt unvereinbar mit der christlichen Grundüberzeugung des Autors. Das zweite Missverständnis besteht in der Fehldeutung des utopischen Kriegswesens als Muster vorbildlicher, ja imperialistischer Machtpolitik.91 In Wahrheit intendiert das Kapitel schlicht das Gegenteil: Es ist eine Satire auf geheuchelte Friedensbekenntnisse, ein bissig-ironischer Kommentar zu einer tragenden Säule zeitgenössischer Machtpolitik: dem gewerbsmäßigen Söldnerwesen, und eine vernichtende Kritik verbreiteter Kriegspraktiken, wie sie Morus unter den christlichen Völkern und Fürsten beinahe täglich um sich herum beobachten konnte. Die dritte große Missdeutung liegt darin, Morus als den Propheten des modernen Kommunismus, als ersten großen Kritiker kapitalistischer Ausbeutung und seine Utopia als erste vorwissenschaftliche Theorie sozialistischen Gemeineigentums zu interpretieren.92 Auch hier ist Morus’ Position eindeutig: In der erwähnten Spätschrift hat Morus nicht nur kommunistischen Gemeinbesitz strikt abgelehnt, sondern überdies legitim erworbenen Reichtum auch mehrfach verteidigt.93 Ausgerechnet die Grundlage der gesamten sozioökonomischen Ordnung Utopias wird demnach von ihrem Verfasser als verallgemeinerungsfähiges staatspolitisches Prinzip nicht geteilt.

      Das heißt freilich nicht, Morus’ Schrift ist eine Art Dystopie, ein abschreckend gemeintes Beispiel, das Morus seinen Zeitgenossen warnend vor Augen halten will. Der Text ist auch keine großangelegte Satire auf die Vernunft. Morus’ Ironie hat nicht zu bedeuten, man müsse nur alle Aussagen ins Gegenteil verkehren, um sodann den wahren Sinn zu erhalten. Dann nämlich müsste man konsequenterweise auch unterstellen, Morus befürwortet Preistreiberei, Ämterkauf, Wucher und das Elend weiter Bevölkerungsschichten. Es ist schlechterdings unmöglich, den zuweilen vorbildhaften Charakter, vor allem aber die kritische Intention der Schrift bei der Bewertung zu übergehen. Man darf getrost unterstellen, dass sich Morus in vielen Dingen des Staates, der Gesellschaft, gar der Religion, ein Denken und Handeln wünscht, das mehr von vernünftigen und nützlichen Überlegungen und weniger von irrationaler Geltungssucht und ehrgeizigem Egoismus geleitet wird. Die utilitaristische Rationalität, das insistierende Fragen nach dem Nutzen für das Gemeinwesen, dient Morus stets als oberste Leitlinie seiner kritischen Analyse der Gegenwart. So gesehen entspricht letztlich weder die einseitige Interpretation als geistreicher Witz noch die entgegengesetzte Deutung als idealstaatliche Schilderung dem Charakter der Utopia.94

      Der genannte Streit lässt sich nun aber – mit Blick auf seine Relevanz für den Utopiebegriff – auf einer neutralen Ebene überspringen: Der Idealstaat ist nur das Thema, die Idee der Erzählung, nicht aber der Gehalt der Utopia selbst. Die Schrift entwirft gewiss einen Maßstab, nämlich das fiktive Bild einer durch und durch rationalen Gesellschaftsordnung. Der Entwurf selbst ist aber nicht der wahre Maßstab des Morus. Die simple Bewertung nach Gut oder Böse, nach wünschenswert oder nicht, ist für die Utopia sogar in den seltensten Fällen das letztentscheidende Kriterium. Für den Utopiebegriff der Utopia hat das zur Folge, dass die Frage nach Wunsch- oder Furchtbild überhaupt nicht die zentrale Kategorie ist. Ob ein utopischer Entwurf als absolutes Ideal des Verfassers zu gelten hat oder nicht, das muss sich stets am jeweiligen Einzelfall erweisen. Für einen an Morus angelehnten Utopiebegriff wird man deshalb festhalten müssen: Wichtiger ist der Utopie zunächst, was sie nicht will. Die Kritik ist zentraler und dem Wesen der Utopie näher als die vermeintlich erträumte Wunschwelt.

      Auch die zweite Diskussion konzentriert sich auf eine gängige Charakterisierung von Utopie. Fast immer wird unterstellt, die Utopie sei vom Verfasser als Vorbild zur praktischen Umsetzung intendiert; der Glaube an ihre Realisierbarkeit, wenigstens aber der Wunsch nach Verwirklichung sei gerade das, was den Autor zum Utopisten macht.95 Auch in diesem Punkt fällt die Diagnose bei Morus gegenteilig aus. Die Antwort ergibt sich im Grunde schon aus dem Vorhergesagten: Wo kein Ideal geschildert wird, erübrigt sich der Verwirklichungswille fast von selbst. Gleichwohl beinhaltet die Utopia mancherlei bedenkenswerte und praktische Vorschläge. An einigen Stellen kommt sie dem Charakter einer Reformschrift sogar verdächtig nahe. Was die Realisierungsdimension des Gesamtentwurfs betrifft, so ist die Antwort der Schrift allerdings eindeutig: Ein fast untrügliches Indiz ist die Tatsache, dass Morus ausgerechnet Raphael die Beschreibung des Gemeinwesens überlässt, denn dieser hatte sich in der vorausgehenden Auseinandersetzung gerade für den Rückzug des Philosophen aus der Politik ausgesprochen. Das Utopische steht somit ausdrücklich nicht auf Seiten unmittelbarer Handlungspraxis, sehr wohl aber ist es mit der Aufforderung verbunden, die bestehenden Einrichtungen auf den Prüfstand zu stellen. Der Geltungsanspruch von Morus’ Utopie

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