Geschichte der Utopie. Thomas Schölderle
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In der Schlussszene wird die Dialogsituation wieder aufgenommen. In einem leidenschaftlichen Plädoyer für das utopische Gemeinwesen bricht Raphael mit seiner anfangs quasi-neutralen Berichterstattung. Der „Dialog-Morus“ reagiert ausweichend. Sein Verweis auf das anstehende Abendessen setzt dem Gespräch ein vorzeitiges Ende. Morus lobt sowohl die beschriebenen Einrichtungen wie die Rede des Raphael. Seine Bedenken, namentlich gegenüber der Kriegspolitik, der Religion und der kommunistischen Lebensweise der Utopier, formuliert Morus nicht mehr an die Adresse Raphaels, sondern richtet sie direkt an den Leser. Er schließt mit dem Satz: „Inzwischen kann ich zwar nicht allem zustimmen, was er gesagt hat, obschon er unstreitig sonst ein ebenso gebildeter wie welterfahrener Mann ist, jedoch gestehe ich gern, daß es im Staate der Utopier sehr vieles gibt, was ich unseren Staaten eher wünschen möchte als erhoffen kann.“ 39 Damit endet die Utopia. Der zentrale Aspekt einer endgültigen Bewertung des Gesagten wird vertagt. Ein solcher Schluss ist im Grunde noch gar keiner. Das Ende ist bewusst offen gelassen; und es ist nun am Leser, Raphaels Standpunkte im Einzelnen zu prüfen. Die Erzählstruktur führt zu einer argumentativen Pattsituation, die verhindert, dass sich der Leser vorbehaltlos auf die eine oder andere Seite schlagen kann. Die Aufgabe des Nachdenkens und der Bewertung wird dem Publikum übertragen und in dieser Weise ist der Aufruf zur eigenen Urteilsbildung ebenso unverkennbar wie die Parallele zu Platons Dialogen.
Von zentraler Bedeutung für das Verständnis der gesamten Schrift sind die dort auftretenden Personen. Die schillerndste Gestalt ist zweifellos der einzige, frei erfundene Charakter: Raphael Hythlodaeus. Ein erster Zugang erschließt sich über seinen Nachnamen. Dieser nämlich enthält – wie schon die Utopia-Wortschöpfung – zwei griechische Begriffe: „hýthlos“ heißt Posse oder Geschwätz; bei dem Wort „dáios“ ist allerdings die Betonung entscheidend: dāios (mit langem a) heißt „feindlich“, demzufolge wäre Raphael der Feind des Geschwätzes oder eben: der inhaltsschwere, weise Philosoph. Liest man jedoch dăios (mit kurzem a), wie es die meisten Interpreten tun, dann erhält man Raphael, den Schwätzer und Possenerzähler, denn das Wort bedeutet so viel wie „erfahren“ oder „kundig“.40 Dass allein damit das Vorzeichen der gesamten Utopia-Schilderung wechselt, liegt auf der Hand. Doch nicht einmal das ist wirklich eindeutig: Selbst bei einer unzweideutigen Übersetzbarkeit könnte der Name im Sinne humanistischer Satire noch immer ironisch gemeint sein.
Im Text wird Hythlodaeus zunächst vorgestellt als ein ehemaliger Reisebegleiter des Amerigo Vespucci. Morus hält ihn deshalb anfänglich für einen Seemann, doch Gilles entgegnet ihm: „Weit gefehlt! (…) Jedenfalls fährt er nicht zur See wie Palinurus, sondern wie Odysseus oder, besser gesagt, wie Platon.“ 41 Der Platon-Vergleich, die Seefahrt und die Weltentdeckung sind unverkennbar Hinweise und Metaphern für philosophische Wahrheitssuche. Der Verweis auf Platon bereitet zudem Raphaels Thema vor: die Frage nach dem „besten“ Staat. Konzipiert ist die Figur als deutliche Kontrastfolie zu den übrigen Personen der Erzählung. Im Gegensatz zu Morus und Gilles kennt Raphael weder private noch berufliche Pflichten. Auch sein gesamtes Vermögen hat er bereits zu Lebzeiten seinen nächsten Verwandten vererbt, um sich auf diese Weise von jeder sozialen Verantwortung freizukaufen.
Darüber hinaus ist Raphael ein großer Vereinfacher. Ablesen lässt sich das an seinem Diktum, wonach alle Besitzenden unnütz und frevelhaft seien, Arme und Besitzlose dagegen prinzipiell bescheiden und gut. Mit der Abschaffung des Geldes, so Raphael, werde auch die Geldgier verschwinden und damit zugleich Betrug, Raub, Mord, Streit, Furcht und Sorgen.42 Hythlodaeus verkürzt nicht nur gern, bisweilen verfängt er sich sogar in groteske Widersprüche. So entwirft ausgerechnet er – die Losgelöstheit in Menschengestalt – das Bild eines Gemeinwesens, in dem das Kollektivinteresse über jede individuelle Selbstbestimmung triumphiert. Ferner besitzt Raphael eine besondere Vorliebe und Gabe, um von politischen Einrichtungen fremder Länder zu berichten. Auf der Insel Utopia gelten Diskussionen über Politik, außerhalb von Senat und Volksversammlungen, allerdings als Hochverrat.43 Raphael ist zudem ein Weitgereister; in Utopia aber muss man sich für jedes Verlassen des Wohnbezirks einen Erlaubnisschein holen und reist im Normalfall in der Gruppe. Außerdem besteht Raphael während seiner Ausführungen explizit darauf, nur von den „Einrichtungen zu berichten, nicht aber diese zu rechtfertigen.“ 44 Gegen Ende seiner Rede formuliert er jedoch ein derart flammendes Plädoyer für die Utopier, dass er seine angeblich neutrale Haltung damit völlig ad absurdum führt.45 Fast noch kurioser ist die Diskussion um die Todesstrafe: Im ersten Buch der Utopia begründet Hythlodaeus seine Ablehnung, selbst Diebe zum Tode zu verurteilen, mit so grundsätzlichen, christlich-humanistischen Argumenten, dass eine Revision seines Standpunkts nicht mehr möglich scheint: „Gott hat verboten zu töten, und wir töten so leicht wegen eines entwendeten Groschens (…). Nun hat uns Gott aber nicht nur die Verfügung über das fremde, sondern auch über das eigene Leben entzogen.“ 46 Nur kurz darauf lobt Raphael allerdings beim Volk der Polyleriten, und später dann auch bei den Utopiern selbst, die dort praktizierte Todesstrafe.47 Überdies kennen die Utopier sogar die staatlich erlaubte, ja geförderte Euthanasie.
Die gesamte Utopia würde man indes kräftig missverstehen, wollte man Hythlodaeus nur als eine literarische Karikatur interpretieren. Trotz all der unübersehbaren Widersprüche, weisen ihn seine Argumentationen bisweilen als höchst kompetenten Beobachter und Kritiker aus. Seine Kenntnisse der englischen Verhältnisse um 1500 und die unterbreiteten Lösungsvorschläge sind zum Teil von solcher Ernsthaftigkeit und so hohem Realitätssinn, dass man in Raphael nicht einfach die Parodie eines selbstgerechten Menschentyps sehen darf. „Schafft diese verderblichen Seuchen aus der Welt!“, so fordert Hythlodaeus: „Schränkt diese Ankäufe der Reichen ein und die Möglichkeit, sie wie ein Monopol zu handhaben! Laßt nicht so viele vom Müßiggang leben! Stellt die Landwirtschaft wieder her! Belebt die Wollspinnerei! Somit hättet ihr ein ehrliches Gewerbe, in dem sich diese müßige Schar nützlich betätigen könnte: einmal die Leute, die die Not bisher zu Dieben machte, dann auch die, die jetzt als Landstreicher oder faulenzende Dienstleute herumlungern, beides zweifellos künftige Diebe.“ 48 Anflüge von Ironie sind dabei nicht erkennbar. Zudem hatte Raphael bereits im ersten Buch eine Theorie des guten Herrschers entwickelt, die sich vollkommen und nachweislich mit Morus’ persönlichen Ansichten deckt.49 Raphael mag phasenweise wie ein verbohrter und wirklichkeitsfremder Idealist erscheinen; bisweilen fungiert er jedoch unzweifelhaft als das Sprachrohr des Morus. In der Figur des Hythlodaeus liegt im Grunde der gesamte Reiz des Utopia-Projekts verborgen. Der gleiche Raphael, der sich in so viele Widersprüche verfängt, trägt auch die harsche Sozialkritik sowie alle in der Utopia entwickelten Reformperspektiven vor. Hieraus leitet sich seine zentrale Funktion für das gesamte Werk ab, weil der Leser jederzeit zur Vorsicht und zur Prüfung des Vorgetragenen aufgerufen bleibt.
Eine ähnliche Stellung kommt auch der Morus-Figur der Erzählung zu. Diese formuliert über weite Strecken Positionen des Autors, etwa wenn Morus im Streit um die Fürstenberatung Vorbehalte gegenüber der weltfremden „Schulphilosophie“ des Hythlodaeus erhebt oder wenn er bezweifelt, dass die Abschaffung von Geld und Privateigentum zu öffentlichem Reichtum führt.50 Der fiktive Morus wendet sich gegen zentrale Einrichtungen des utopischen Staates und ist damit als Korrektiv zu Hythlodaeus’ Erzählung von nicht unwesentlicher Bedeutung. Trotzdem bleibt Vorsicht geboten. Die Dialogfigur ist beispielsweise nicht in der Lage, die sprechenden Namen der Personen und Orte zu deuten. Ferner wird in der Schlussszene zu Bedenken gegeben, dass durch die Einrichtung des Kollektiveigentums doch „aller Adel, alle Erhabenheit, aller Glanz, alle Würde, alles, was nach allgemeiner Ansicht den wahren Schmuck und die wahre Zierde eines Staatswesens ausmacht, vollständig ausgeschaltet“ werde.51 Wenn Morus seine Zweifel allerdings nicht mit der „eigenen“, sondern mit der „allgemeinen Ansicht“ begründet, dann mag die Satire durchaus erkennbar sein, vor allem, wenn man halbwegs mit Morus’ Haltung gegenüber der Prunksucht an den europäischen Fürstenhöfen vertraut ist. An dieser Stelle spricht nicht der Autor, er hat vielmehr seiner Dialogfigur die Maske der „öffentlichen Meinung“ aufgesetzt und diese wird ganz offensichtlich selbst das Opfer einer Täuschung. Man kann Morus