Geschichte der Utopie. Thomas Schölderle

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Geschichte der Utopie - Thomas Schölderle

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Pate gestanden. Nicht zuletzt aber ist die politische Ordnung das Konstrukt einer strikt rationalen Herrschaftspraxis. Der Politikbegriff ist kein rein politischer, sondern soziologisch universal: Wirtschaft, Arbeit, Erziehung, Kultur und Herrschaft bedingen und stabilisieren sich gegenseitig. Exemplarisch zeigt sich das am Rechtssystem: Weil die Utopier infolge ihrer vorbildlichen Erziehungseinrichtungen den moralischen Normen aus innerem Antrieb folgen, ist übermäßiger Zwang von außen nicht erforderlich. Die Utopier bedürfen nur wenig der Gesetze und Gerichte, sie hegen Abscheu gegen Regulierungswut und spitzfindige Juristerei und halten grundsätzlich die einfachste Auslegung der Rechtstexte für die richtige.77

      Das alles dominierende Prinzip ist allerdings auch in der Strafrechtspraxis der Zweckrationalismus. Generell gilt der Vorrang der Zwangsarbeit vor der Todesstrafe. „Denn einmal nutzen sie durch ihre Arbeit mehr als durch ihren Tod und dann schrecken sie durch ihr warnendes Beispiel andere länger vor einer ähnlichen Missetat ab.“ Die Todesstrafe kennen die Utopier allerdings neben wiederholtem Ehebruch noch bei einem weiteren Vergehen: Wenn Häftlinge sich „widerspenstig und aufsässig verhalten, dann freilich werden sie wie wilde Tiere, die Käfig und Ketten nicht zu bändigen vermögen, totgeschlagen.“ 78 So brutal diese Praxis anmutet, sie ist nicht allein zynischer Natur. Das Vorgehen erscheint noch immer humaner als die von Raphael im ersten Buch so heftig attackierte Behandlung der Bettler und Diebe in Europa. Für die rationalen Prinzipien der Utopier markiert die Todesstrafe auch kein ethisch-systematisches Problem; für die europäischen Christen hingegen, die weitaus häufiger zu diesem Mittel greifen, müsste eigentlich schon die Überzeugung, wonach Gott allein das Leben gibt und nimmt, einer derartigen Praxis vorbeugen. Wenn die Europäer in dieser Frage aber noch deutlich unerbittlicher zu Werke gehen, dann trifft sie die Kritik zweifellos doppelt.

      Kein wirklich anderes Bild zeigt sich zunächst auch in Sachen utopischer Außen- und Kriegspolitik – und doch ist in diesem Bereich die Diskussion um die Vernunft auf dramatische Weise zugespitzt. Obwohl gleich zu Beginn des Abschnitts mitgeteilt wird, dass die Utopier den Krieg als etwas Bestialisches verabscheuen, kennen sie eine erstaunlich weit gefasste Skala an Gründen, die einen Krieg rechtfertigen. Sie führen zwar niemals Angriffskriege, doch als zulässig erachten sie: den Verteidigungskrieg, sowohl in eigener Sache wie zugunsten ihrer Freunde; den Befreiungskrieg gegen Tyrannen unterdrückter Völker; den Vergeltungsfeldzug für ihre Verbündeten, der kurioserweise meist aus kapitalistischen Handelstreitigkeiten ihrer Freunde resultiert.79 Und schließlich erscheint ihnen auch noch der Krieg zum Zwecke der Bodennutzung auf fremdem Territorium für legitim. Die Parallelen sind schwerlich zu übersehen: Wie die europäischen Herrscher, so wenden sich auch die Utopier lauthals gegen den Krieg, beschwören ihre Friedensliebe und finden dann allerlei Gründe, um doch zu kämpfen.

      Dieses satirische Vorgehen setzt sich in gleicher Weise bei den Praktiken der Kriegsführung fort. Als Maßnahmen bevorzugen die Utopier zum Beispiel Feinde mit Geld zu bestechen, sie zum Verrat in eigener Sache anzustiften und das feindliche Volk durch innere Zwietracht zu zermürben. Ritterliche Tugenden wird man den Utopiern dabei kaum nachsagen wollen, auch wenn ihre Methoden zumindest geeignet scheinen, das Blutvergießen in Grenzen halten. Spätestens wenn jede List versagt, endet aber auch bei den Utopiern der Rekurs auf den humanitären Zweck. Es werden dann – um den eigenen Blutzoll zu vermeiden – fremde Völker in den Kampf gehetzt und Söldner gemietet. Die Söldnertruppen entstammen vor allem dem Volk der „Zapoleten“ und die Beschreibung von Heimat und Lebensweise dieses Volkes lässt nur den Schluss zu, dass es sich um eine ziemlich unzweideutige Anspielung auf die Schweizer Söldnerheere handelt, die seinerzeit in fast allen Armeen Europas kämpften.80 Über die Motivation, sich gerade der Zapoleten zu bedienen, erklärt Raphael: „Denn so gern sich die Utopier die Dienste guter Leute zunutze machen, so gern ziehen sie diese grundschlechten heran, um sie auszunützen. (…) Es kümmert sie nämlich nicht, wie viele von ihnen sie zugrunde richten; vielmehr sind sie überzeugt, dass sie sich den größten Dank des menschlichen Geschlechtes verdienten, wenn sie den Erdball von diesem Abschaum der Menschheit, von diesem ganzen abscheulichen und verruchten Volke reinigen könnten.“ 81

      Hier nun gerät man endgültig ins Staunen: Vom Geist der Humanität, von dem an anderer Stelle beschworenen, „natürlichen Band“ zwischen den Menschen, ist kein Funke mehr zu spüren.82 Die Vernunft schlägt gänzlich in ihr inhumanes Gegenteil um. Nicht blanke Unvernunft aber spricht aus den Methoden und Zielen ihrer Kriegsführung. Vielmehr dominiert eine spezielle, bis ins äußerste Extrem gesteigerte Seite der Vernunft, nämlich das allein effiziente Nutzenkalkül, das dem kollektiven Eigeninteresse alle Handlungsoptionen unterordnet. Mehr noch: Mit zynischer Rechtfertigung beweihräuchern sich die Utopier selbst, wenn sie ein ganzes Volk zum Abschaum erklären und dieses im angeblichen Dienst für die Menschheit der Vernichtung preisgeben. Man steht damit endgültig vor den Ambivalenzen der Vernunft. Diese ist – so muss man das Experiment der Utopia verstehen – ein höchst zweischneidiges Schwert: Führte die Vernunft bisher in der überwiegenden Zahl der Fälle zu gesunden und sympathischen Wertvorstellungen, zu effizienten Institutionen und ebenso menschlichen wie nützlichen Sitten, so lässt sich Gleiches über die kalte Brutalität der Kriegspolitik nicht mehr behaupten. Hier sind die Utopier sogar schlimmer als die Europäer. Wie in einem satirischen Spiegelbild können die „christlichen“ Regenten Europas am Verhalten der Utopier ihre eigene Verwerflichkeit – in deutlich zugespitzter Form – besichtigen. Der Effizienzgedanke ist in einer Weise auf die Spitze getrieben, dass ziemlich unzweideutig die Warnung vor einer Rolle der Vernunft ausgesprochen wird, die sich selbst absolut und damit ins Unrecht setzt.

      Auch der letzte Abschnitt ist eine Diskussion menschlicher Vernunft. Mit dem Kapitel zur utopischen Religion werden allerdings nicht mehr Ausprägungen in einzelnen Teilbereichen erörtert, vielmehr steht die Vernunft als Ganzes auf dem Prüfstand. Indem das Verhältnis zum Glauben ausgelotet wird, geht es um Rolle und Funktion, Leistungsfähigkeit wie -grenzen menschlicher Rationalität insgesamt. Auffallend ist zunächst, wie sehr die Vernunft eine tolerante Grundhaltung gebietet. Auf der Insel gilt grundsätzlich, „daß jeder der Religion anhängen dürfe, die ihm beliebe; andere aber zu seiner Religion zu bekehren, dürfe er nur insoweit versuchen, daß er seine Anschauung ruhig und bescheiden mit Vernunftgründen belege“ 83. Die Religionsfreiheit hat eine erstaunliche Fülle unterschiedlicher Sitten, Kulte und Traditionen zur Folge, die von der Verehrung der Sonne, des Mondes, verschiedener Planeten bis hin zur Huldigung eines bestimmten Menschen als höchste Gottheit reicht. Eine Einheitsreligion kennen die Utopier demnach nicht, und doch findet der Glaubenspluralismus in der Vernunft gewissermaßen eine Grenze; denn sie sorgt tendenziell dafür, dass die Utopier sich zunehmend von abergläubischen Vorstellungen abwenden und sich jener Religion anschließen, „die die anderen an Vernünftigkeit zu übertreffen scheint.“ 84 Diese rationale Fundierung des Glaubens hat einen einfachen Grund: „Das ist ihre Auffassung von Tugend und Lust“, so war bereits im Abschnitt über die ethischen Grundsätze zu lesen, „und sie sind der Ansicht, es lasse sich mit menschlicher Vernunft keine richtigere ergründen, es sei denn, eine himmlische Offenbarung gebe dem Menschen eine erhabenere ein.“ 85 Die Utopier entbehren also der Gnade göttlicher Offenbarung. Die Passage ist von weitreichender Bedeutung, weil sie den wohl zentralsten christlichen Glaubenssatz der damaligen Zeit berührt. Dieser wurzelt in Thomas von Aquins Lehre vom Natürlichen und Übernatürlichen, und seine Kernaussage lautet: „Ferner war es zu allem hin, was menschliche Vernunft bezüglich Gottes erkunden kann, doch notwendig, daß der Mensch auch durch göttliche Offenbarung unterrichtet wurde.“ 86 Von den beiden Wegen der Glaubenserkenntnis – menschliche Vernunft (humana ratio) und göttliche Offenbarung (caelitus immissa religio) – verfügen die Utopier aber lediglich über das erstgenannte Prinzip. Und damit sind sie eindeutig als Heiden im Sinne des genannten Glaubenssatzes gekennzeichnet.

      Insofern ist interessant zu sehen, zu welch religiösen Einsichten die Utopier nun ausschließlich mit Hilfe der Vernunft gelangen. Auch hier liefert die Utopia eine klare Antwort: „Der bei weitem größte und der weitaus vernünftigste Teil (…) glaubt (…) an ein einziges unbekanntes, ewiges, unendliches, unbegreifliches göttliches Wesen, das die menschliche Fassungskraft übersteigt“ 87. Sowohl

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