Geschichte der Utopie. Thomas Schölderle

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Geschichte der Utopie - Thomas Schölderle

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Das ethische Fundament der Utopier ist folglich kein christlicher, sondern ein ausschließlich vernünftiger Moralkodex. Auffallend ist jedoch zugleich, dass die geschilderten Vernunftkonzeptionen in den Bereichen Ethik und Landesplanung nicht vorbehaltlos in ein widerspruchsfreies Bild zu fügen sind: Das Verhalten, mittels Vernunft die Natur zu kontrollieren und sie den eigenen Nützlichkeitsvorstellungen gemäß zu beherrschen, verträgt sich nicht ohne Weiteres mit der Auffassung, sich vollkommen in die natürliche Ordnung zu integrieren und die Stimme der Natur dabei als Weisung der Tugend und Vernunft gleichermaßen zu deuten.

      Wie kaum ein anderer Lebensbereich ist schließlich die Wirtschafts- und Sozialordnung unter die Bedingung einer gemeinwohlorientierten Nutzenmaximierung gestellt. Dem weitgehenden Luxusverzicht steht ein Überfluss an notwendigen Gütern der Grundversorgung gegenüber. Es herrscht allgemeine Arbeitspflicht – für Männer wie Frauen. Essen gibt es nur gegen geleistete Arbeit und so kennen die Utopier weder Tagediebe noch Bettler, weder untätige Großgrundbesitzer noch faule Ordensbrüder. Eine tägliche Arbeitszeit von sechs Stunden reicht aus, „um alles das bereitzustellen, was unentbehrlich oder nützlich“ ist.68 Der eklatante Gegensatz zu den von Raphael im ersten Buch geschilderten Zuständen in Europa ist kein Zufall; der Kontrast ist zweifellos gewollt. Das beständige Insistieren auf die allgemeine Nützlichkeit wird schließlich bis zur Absurdität gesteigert: Ist ein Utopier auf Reisen, so muss er spätestens am zweiten Tag bei einem Kollegen seinem Beruf nachgehen, will er etwas zu essen erhalten. Das ist eine Forderung, die sich in der Realität so wenig umsetzen lässt, dass sie beinahe unvernünftig anmutet. Auch besitzen die Utopier Brutmaschinen zum Zwecke der Hühnerzucht. Mögen dies auch hocheffiziente Mittel sein, so waren doch derartige Dinge für Morus’ Zeitgenossen noch so fremd, dass man sie als reine (nutzenmaximierende) Fantasiekonstruktionen auffassen musste. Darüber hinaus ziehen die Utopier Ochsen den Pferden vor, denn zum einen seien sie ausdauernder, zweitens weniger anfällig für Krankheiten, drittens sei ihr Unterhalt billiger, und viertens könne man sie am Ende noch verspeisen.69 Vergleichbare Ironiesignale und satirisches Spiel gibt es in der Utopia zuhauf. Sie schaffen immer wieder eine kritische, zur Reflexion auffordernde Distanz. Dieses Muster ist ferner eine häufige Quelle des Humors: Mag sich das Verhalten auch für überzogen oder absurd ausnehmen, es folgt ohne Einschränkung einer konsequenten Grundhaltung.

      Neben dem Nützlichkeitsdenken ist es der Kollektivismus, der im Bereich von Ökonomie und Gesellschaft konsequent verwirklicht scheint. So praktizieren die Utopier alle zehn Jahre einen Wechsel ihrer Häuser, deren Türen sich jederzeit von jedermann öffnen lassen: „so gibt es keinerlei Privatbereich.“ 70 Auch Privateigentum ist den Utopiern fremd: Produktion, Güterverteilung und Arbeitsorganisation basieren nicht auf der Realisierung individuellen Gewinnstrebens, sondern auf kollektiver Planung. Im Gegensatz zu Platon, der die Gütergemeinschaft zum Privileg der obersten Stände erklärte, gilt der Kommunismus in Utopia für alle.71

      Raphaels flammendes Plädoyer für das Gemeineigentum der Utopier war häufig Anlass zur Vermutung, Morus habe mit seiner Utopia eine dezidiert kommunistische Weltanschauung propagieren wollen. In Wahrheit hat Morus aber rechtmäßig erworbenes Eigentum nicht nur mehrfach verteidigt, sondern auch in einer Spätschrift dem Reformator und englischen Bibelübersetzer William Tyndale „schreckliche Häresien“ vorgeworfen, weil dieser behauptet habe, die von Gott gegebenen Güter und das Land müssten dem Evangelium zufolge allen Menschen gemeinsam gehören.72 Auch in der Utopia selbst widerspricht der Dialog-Morus dem Kommunismus an zwei Stellen des Textes und macht sich dabei das traditionelle, auf Aristoteles zurückgehende Argument gegen den platonischen Kommunismus zu eigen: Neben der Schlussszene 73 gibt er schon im ersten Buch zu bedenken: „Mir dagegen (…) scheint dort, wo alles Gemeingut ist, ein erträgliches Leben unmöglich. Denn wie soll die Menge der Güter ausreichen, wenn sich jeder vor der Arbeit drückt, da ihn keinerlei Zwang zu eigenem Erwerb drängt und ihn das Vertrauen auf fremden Fleiß faul macht?“ 74 Raphael begegnet diesem Einwand lediglich mit der paradoxen Bemerkung: Morus hätte mit ihm in Utopia sein sollen, um es mit eigenen Augen zu sehen. Den Zweifel kontert Raphael also weder mit einer Erklärung, geschweige denn mit einem einzigen Argument. Vielmehr antwortet er mit dem Verweis auf die Existenz Utopias, von der der Leser weiß, dass sie nur im Kopf des Autors existiert. Raphaels radikale Position scheint damit weitgehend als wirklichkeitsfremd entlarvt. So wenig der konsequente Produktions- und Güterkommunismus mit Morus’ persönlichen Ansichten vereinbart scheint, so sehr fügt er sich doch in das Porträt der strikt kollektiven Lebensweise der Utopier.

      Mit Blick auf die sozialen Strukturen der Utopier ist zunächst auffallend, wie sehr der Familienverband die Keimzelle des gesamten gesellschaftlichen Lebens ist. Ehepartner wegen körperlicher Gebrechen oder Krankheit zu verstoßen, zieht lebenslanges Heiratsverbot nach sich. Ehebrechern droht Zwangsarbeit, im Wiederholungsfall wartet sogar die Todesstrafe. Dennoch praktizieren die Utopier ein vergleichsweise liberales Eherecht, das dem christlichen Sakramentsgedanken stracks zuwiderläuft. Scheidung und Wiederverheiratung ist prinzipiell erlaubt, sofern beide Partner und der Senat ihr Einverständnis erklären. Satirisch überzeichnet ist dagegen eine andere Sitte: Die heiratswilligen Utopier werden vor der Hochzeit einander nackt präsentiert, um zu verhindern, dass sich später Enttäuschung breit macht, schließlich würde man selbst „beim Kauf eines elenden Gauls“ nicht anders verfahren.75 Insgesamt ist die große Bedeutung von Ehe und Familie zweifellos ein konservatives und traditionalistisches Element, das über weite Strecken mit christlich-mittelalterlichen und auch mit Morus’ eigenen Wertmaßstäben in Einklang steht. Wenn Raphael dann allerdings schildert, dass die durchschnittliche Familie in den Städten Utopias zehn bis 16 erwachsene Mitglieder zählt und dass bei Überschreiten der Höchstzahl Kinder an kleinere Familienverbände abgegeben werden,76 dann prallen zwei völlig unterschiedliche Vernunftkonzeptionen aufeinander. Die staatliche Direktive, Kinder aus ihren Familien zu reißen, nur weil die Quantitäten nicht dem staatlich verfügten Optimum entsprechen, kommt einem Generalangriff auf alle natürlich gewachsenen Sozialstrukturen gleich. Die Maßnahme mag als rigide Überzeichnung politisch-administrativer Lenkungsmethoden des Staates gelten. Und das berechtigt zu dem Schluss, dass hier offensichtlich erneut nicht eine ernst gemeinte Reformperspektive vorgetragen, sondern vielmehr die Konsequenz eines gedanklichen Prinzips ausgemalt wird.

      Aus der mathematisch-geometrischen Familien- und Landesstruktur geht auch das politische System im engeren Sinn hervor: Je 30 Familien wählen sich jährlich einen Syphogranten; je zehn dieser Vorstände einen Traniboren. Alle Syphogranten, 200 an der Zahl, wählen in geheimer Abstimmung einen von vier, durch das Volk nominierten Kandidaten zum Oberhaupt einer Stadt. Dieser Wahlmonarch amtiert für gewöhnlich lebenslang; sofern er jedoch tyrannische Züge entwickelt, kann er abgesetzt werden. Die Traniboren, für jeweils ein Jahr gewählt, bilden den Senat, der zudem die höchste richterliche Instanz verkörpert. Schließlich kennen die Utopier noch einen „Rat der gesamten Insel“, über den aber kaum etwas ausgesagt wird, außer dass er sich einmal jährlich aus jeweils drei erfahrenen Bürgern der 54 Städte zusammensetzt. Auffallend ist, dass auch von anderen überregionalen Staatsorganen keine Rede ist. Es scheint, als würden die Utopier hauptsächlich von städtischen Senatsversammlungen regiert. Dass es noch einen König gibt, analog zum Verfassungsgeber Utopos, ist höchst unwahrscheinlich. Morus begnügt sich mit der Schilderung der lokalen Verwaltungspraxis. Obwohl die utopischen Städte in Sprache, Sitten, Einrichtungen und Gesetzen vollkommen übereinstimmen, basiert ihr politisches System auf einer ausgeprägten föderalen Struktur.

      Hervorgegangen sind alle Institutionen aus den Prinzipien der Wahl und der Repräsentation. Die Bezeichnung „liberale Demokratie“ würde allerdings in die Irre führen, denn es gibt keine erklärte Privat-, geschweige denn eine kodifizierte Sphäre von Grund- oder Bürgerrechten. Aufgabe der politischen Institutionen ist nicht die Ausführung eines erklärten Bürgerwillens, sondern weit mehr Überwachung und Kontrolle: So ist eine zentrale Funktion der Syphogranten, dafür Sorge zu tragen, dass niemand müßig herumsitzt. Die Syphogranten sind darüber hinaus die einzige Gruppe, die nicht zwingend jener Gelehrtenkaste – den 500 von der Arbeit freigestellten Wissenschaftlern einer Stadt – angehören, aus der sich ansonsten das politische Führungspersonal rekrutiert.

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