Internationale Migrationspolitik. Stefan Rother

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Internationale Migrationspolitik - Stefan Rother страница 9

Автор:
Серия:
Издательство:
Internationale Migrationspolitik - Stefan Rother

Скачать книгу

der Interaktion zwischen den Staaten hängt es ab, ob sich die soziale Identität der Akteure auf das Primat des Eigeninteresses beschränkt oder ob die Entwicklung eines kollektiven Interesses möglich ist. Die Chancen für Letzteres wachsen in dem Ausmaß, in dem sich Staaten mit dem Schicksal anderer Staaten identifizieren. (Wendt 1994, S.386) Eine solche positive Identifikation kann ein Gemeinschaftsgefühl, Solidarität und Loyalität hervorbringen und ein Handeln jenseits strenger Kosten-Nutzen-Rechnung zur Folge haben. Kooperation zwischen Staaten kann so zu einer ständigen gegenseitigen Beeinflussung hinsichtlich der Wahrnehmung der eigenen Identität führen. Normen, Identitäten und Interessen von Staaten sind grundlegende Variablen einer konstruktivistischen Analyse der internationalen Beziehungen.

      Mit konstruktivistischen Ansätzen lässt sich also Kooperation – aber auch deren Nichtzustandekommen (Rother 2004) – analysieren und auf Politikfelder wie Migration herunterbrechen. Studien hierzu gibt es bislang aber kaum (für die EU etwa: Koslowski 2000; Sommer 2013), vielleicht auch weil etwa Wendt Staaten weiterhin als zentrale Akteure seiner Analyse verwendet und transnationale Phänomene wie Migration oder Zivilgesellschaft kaum berücksichtigt. Hier besteht noch erhebliches Potential zur Theorieentwicklung, zumal sich Konzepte wie die Herausbildung von kollektiven Identitäten durch Interaktion zwischen dem „Selbst“ und „den Anderen“ in vieler Weise mit Migration und Integration in Verbindung bringen ließen.

      Die wohl engsten Verbindungspunkte zwischen konstruktivitischen Ansätzen und Migrationspolitik gibt es beim Konzept der „Versicherheitlichung“ („securitization“). Die Vertreter*innen der Kopenhagener Schule argumentieren, dass Sicherheit keine objektive Kategorie ist, sondern erst im Diskurs konstruiert wird. Die Versicherheitlichung von Migration ist hier eines der offenkundigsten Beispiele, wie sich etwa bei der Konstruktion von Grenzübertritten als Bedrohung (durch Aussagen wie „Die EU muss ihre Außengrenzen schützen“) zeigt (→ 12 Migrationspolitik der Europäischen Union).

      2.2.5 Weitere politikwissenschaftliche Ansätze

      Darüber hinaus gibt es viele weitere politikwissenschaftliche Ansätze, die zur Erklärung von Migration und Migrationspolitik herangezogen werden können. Bezeichnend ist dabei, dass sich die politikwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Migration lange auf die Zielländer konzentrierte. Dies erklärte sich dadurch, dass seit der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts in steigendem Maße westeuropäische Demokratien zum Ziel von Migration wurden, was die dort ansässigen Politikwissenschaftler herausforderte, Antworten auf das zunehmend als „Krise” empfundene Phänomen zu geben. Die Auswirkungen von Migration auf die Herkunftsländer wurden entsprechend im deutlich geringeren Maße untersucht, sieht man einmal davon ab, dass man sich in der entwicklungspolitischen Forschung bereits seit längerem mit den (heimischen) Ursachen der Migration (Nuschler 2003) und dem Phänomen des Brain Drain beschäftigt hat (→ 10 Migration und Entwicklung).

      Neben den Auswirkungen auf die nationale Sicherheit und die Außenpolitik (s.o.) untersuchen politikwissenschaftliche (wie auch soziologische, historische und rechtswissenschaftliche) Arbeiten insbesondere die innenpolitische Dimension von Migration. Im Mittelpunkt stehen die Gewährung von Bürgerrechten und mithin verfassungsrechtliche Fragen, der Einfluss auf die soziale Struktur des Gemeinwesens, vom Staat unternommene Integrationsanstrengungen und die Problematik der nationalen Identität (Bommes und Halfmann 1998; Oberndörfer 1991). Auch die Frage, warum trotz innenpolitischen Drucks Migration immer weiter zunehme, beschäftigte viele politikwissenschaftliche Arbeiten (sog „gap hypothesis“; Joppke 1998; Cornelius et al. 2004). Der eingangs erwähnte Hollifield erklärt dieses Phänomen mit seiner These des liberalen Paradoxons liberal state thesis (Hollifield und Wong 2015, S.240). Demnach ist der liberale Staat der Schlüssel, um Migration zu erklären: Eine radikale Restriktion von Migration durch den Staat impliziert die Verletzung von individuellen Rechten. Da der Schutz individueller Rechte zentrales Kriterium des liberalen Rechtsstaates ist, kann Migration nur begrenzt eingedämmt werden, auch wenn Migration den ökonomischen oder innenpolitischen Interessen widerspricht. Weiterhin fällt es liberalen Staaten schwer, einmal gewährte Rechte zu widerrufen. Liberal-institutionelle Ansätze sehen die Zunahme von Migration zudem an die wachsende Herausbildung von internationalen Menschenrechtsregimen und die damit verbundene Individualisierung des Völkerrechts gekoppelt (Jacobson 1996).

      Aufgrund der fortschreitenden Integration der Europäischen Union hat sich die Politikwissenschaft zunehmend auch dem Bereich der Migrationspolitik auf der regionalen Ebene gewidmet. So geht etwa Christoph Roos (2013) der Frage nach, ob jüngere Entwicklungen der gemeinsamen EU-Immigrationspolitik zu Rissen in der vielbeschworenen „Festung Europa“ geführt haben. Das Forschungs-Puzzle besteht dabei in der Frage, warum Staaten gemeinsame Einwanderungsregelungen etablieren, die möglicherweise auch zu einer Zunahme von Einwanderung führen können, obwohl sie die Regelung des Zugangs zu ihrem Territorium als zentralen Ausdruck ihrer Souveränität verstehen. Dabei ist zwischen Grenz- und Einwanderungskontrolle zu unterscheiden: Während erstere im Schengenraum bereitwillig externalisert und eine einheitliche Grenz- und Visapolitik beschlossen wurde, liegt die weiter reichende Einwanderungspolitik weiterhin zum Großteil in der Hand der Nationalstaaten.

      Wie Roos ausführt, gibt es eine umfassende Literatur zur Grenzkontroll- und Fluchtpolitik der EU, aber vergleichsweise weniger Studien zur Einwanderungspolitik. Diese stellt ein eigenes Politikfeld dar und folgt somit möglicherweise auch einer eigenständigen Logik. Sie umfasst über den Zugang zum Territorium hinaus eine Vielzahl von Politikfeldern wie Staatsbürgerschafts-, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Integrationspolitik. Untersuchen lässt sich die europäische Einwanderungspolitik etwa anhand von EU-Richtlinien zu Familienzusammenführung, Arbeitsmigration, langfristig Aufenthaltsberechtigte sowie Studierende und Forschende.

      2.3 Eine interdisziplinäre Perspektive auf Migrationspolitik

      Der Überblick hat gezeigt, dass Theorien zur internationalen Migration ein breites Instrumentarium bieten, um Migrationsprozesse und politisches Handeln von Staaten, suprastaatlichen Organisationen und Regimen zu erklären. Dabei ergänzen sich Theorieansätze aus allen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, da sie vielfache andere Herangehensweisen an soziale und ökonomische Aspekte der Migration bieten, die andere Disziplinen unter Umständen vernachlässigen. Ein Ziel dieses Bandes ist es daher auch, einen Schritt hin zu einer interdisziplinären Perspektive aufzuzeigen, die auch die Politikwissenschaft, und hier insbesondere den Teilbereich der Internationalen Beziehungen, miteinschließt. Anknüpfungspunkte finden sich reichlich, insbesondere wenn es das Zusammenspiel (oder Gegeneinanderwirken) von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren betrifft. So setzten Staaten zwar weiterhin vielfältige Rahmenbedingungen für Migration, Migrant*innen selbst und ihren Organisationen wird dabei aber kaum (politische) Akteursqualität zugestanden. Insbesondere die aus der Ethnologie und Soziologie stammenden Konzepte von Transnationalisierung und der Raumbegriff der Geographie besitzen das Potential, sich mit einer politischen Perspektive verknüpfen zu lassen.

      Weiterführende Fragen und Literatur

       Drei Fragen zum Weiterdenken

       Inwieweit unterscheiden sich politikwissenschaftliche Migrationstheorien von anderen sozialwissenschaftlichen Theorien?

       Worin ergänzen sich politikwissenschaftliche und andere sozialwissenschaftlichen Migrationstheorien?

       Wie lassen sich das Konzept staatlicher Souveränität und die Interessen von Migrant*innen in Einklang bringen?

       Drei Bücher zum Weiterlesen

      Caroline Brettell/James F. Hollifield (Hg.) (2015): Migration Theory: Talking across disciplines. Third edition. New York: Routledge.

       Ein umfassender Überblick über die theoretischen Zugänge zu Migration

Скачать книгу