Friedens- und Konfliktforschung. Ines-Jacqueline Werkner
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Friedens- und Konfliktforschung - Ines-Jacqueline Werkner страница 10
„Die Offenheit zu vielen Fächern überwiegt die Nachteile, die ein Verzicht auf Disziplinierung mit sich bringt, wie etwa den Verzicht auf einen eigenen methodischen Zugang.“ (Brzoska 2012, S.135)
Stattdessen wird Friedensforschung als „disziplintheoretisches Patchwork“ (Jaberg 2011, S.55), als „inhaltlich variables Forschungsprogramm, das unterschiedliche disziplinäre Aggregatzustände annehmen kann“ (Jaberg 2011, S.64), als „interdisziplinärer Forschungskomplex“ (Jahn 2012, S.7) beziehungsweise als „multi-, inter- und transdisziplinäres Forschungsfeld“ (Ide 2017, S.8) beschrieben. Wilfried Graf und Werner Wintersteiner (2016, S.79) sprechen von einer „Inter-Disziplin“,
„die sich den Standards, Fragestellungen und Herausforderungen, wie sie sich in jeder für sie relevanten Einzelwissenschaft ergeben, stellen muss, die aber durch ihren integrativen und inter- und transdisziplinären Ansatz unverbundene Theoriestränge zusammenführt und damit zu neuen Erkenntnissen gelangt, die über eine Einzelwissenschaft nicht zu erlangen wären“.
Multidisziplinarität – Interdisziplinarität – Transdisziplinarität
Multidisziplinarität liegt vor, „wenn sich mehrere Disziplinen eines vorgegebenen Problems annehmen und dieses unabhängig voneinander mit ihren eigenen Methoden und Theorien untersuchen. Die Ergebnisse der von den Disziplinen analysierten Teilprobleme werden in der Regel am Ende nur additiv zusammengefügt“ (Dubielzig und Schaltegger 2004, S.8).
Interdisziplinarität ist „eine Form wissenschaftlicher Kooperation in Bezug auf gemeinsam zu erarbeitende Inhalte und Methoden, welche darauf ausgerichtet ist, durch Zusammenwirken geeigneter Wissenschafter/innen unterschiedlicher fachlicher Herkunft das jeweils angemessenste Problemlösungspotenzial für gemeinsam bestimmte Zielsetzungen bereitzustellen“ (zit. nach Dubielzig und Schaltegger 2004, S.9).
Transdisziplinarität stellt eine weitere, häufig als höherwertig angesehene Stufe der Kooperation dar. Sie unterscheidet sich von der Interdisziplinarität (1) durch die Dauerhaftigkeit der Kooperation, (2) durch die Transformation disziplinärer Orientierungen und (3) durch die Beschäftigung mit lebensweltlichen, gesellschaftlich relevanten Problemen (vgl. Mittelstraß 2003, S.9f; Jungert 2013, S.6f.). Als weiteres Merkmal gilt häufig auch die Einbeziehung von Vertreterinnen und Vertretern der Praxis in die Kooperation (vgl. Dubielzig und Schaltegger 2004, S.10f.).2
Die Inter- und Transdisziplinarität der Friedensforschung scheint so elementar wie ambitioniert. Sie erfordert gemeinsame, disziplinenübergreifende Verständigungen und Forschungspraktiken. Damit einher geht die Notwendigkeit von Übersetzungsprozessen, rekursiven Lernprozessen, einer komplexen Problemsicht und einer Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeit und endet bei einem neuen Wissenschaftsverständnis. Fraglos ist ein solcher Zugang angesichts der zu verhandelnden Probleme durchaus erstrebenswert, gehen mit disziplinärer Arbeit stets auch Erkenntnisgrenzen einher (vgl. Dubielzig und Schaltegger 2004, S.7). Dennoch wird dieser Anspruch – und zwar nicht nur in der Friedensforschung – häufig nicht eingelöst (vgl. Jahn 2012, S.27; Brühl 2012, S.178; Sukopp 2013, S.14ff.)). Bestenfalls lassen sich, wenn überhaupt, multidisziplinäre Ansätze erkennen. So konstatiert auch Jürgen Kocka (1987, S.8): „Der Glanz des Begriffs ist ein wenig verblaßt. […] einstmals hochgespannte Erwartungen [sind] angesichts zäher Schwierigkeiten reduziert worden“. Zu den Schwierigkeiten inter- und transdisziplinärer Arbeit zählen unter anderem die unterschiedlichen disziplinären Codes und Sprachen, die mangelnde „Kopulationsfähigkeit“ grundsätzlich verschiedener Theorieentwürfe aus den Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften, die jeweils in den einzelnen Fachdisziplinen vorherrschenden spezifischen Methoden oder auch die in den einzelnen Disziplinen etablierten Denkweisen und Anschauungen, die häufig als unhintergehbar gelten (vgl. Kocka 1987, S.8f.; Sukopp 2013, S.14f.).
3.4 Fazit
Normativität, Praxisorientierung und Inter- beziehungsweise Transdisziplinarität – diese Merkmale prägten von Beginn an die Friedensforschung. In der Literatur werden sie häufig sogar als konstitutiv angesehen. Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Systemwandel in Europa ist – das haben die obigen Ausführungen aufzeigen können – ein Wandel im Selbstverständnis der Friedensforschung unverkennbar. Dieser führt aber nicht zwangsweise zu einer Aufgabe der genannten Ansprüche. So fordert der zu verzeichnende Trend von einer „Forschung für den Frieden“ zu einer „Forschung über den Frieden“ sicherlich eine stärkere empirische Unterfütterung ein, er negiert aber nicht per se das normative Selbstverständnis der Friedensforschung. Bereits jede Forschungsfrage stellt eine normative Setzung dar. So mag beispielsweise die Frage nach der Effektivität von targeting killing als Forschungsthema unter die Freiheit der Forschung nach Artikel 5 des Grundgesetzes fallen und sich in den Internationalen Beziehungen als relevant erweisen, in der Friedensforschung aber auf normative Vorbehalte stoßen. Im Vergleich zu Hochzeiten der kritischen Friedensforschung, deren normative Aussagen sich am weiten Friedensbegriff orientierten, wird seit den 1990er Jahren verstärkt ein enger (substanzieller) Friedensbegriff vertreten (vgl. Kapitel I in diesem Lehrbuch). Normative Aussagen bestehen weiterhin, verweisen aber auf einen anderen Bezugspunkt.
Vor diesem Hintergrund erweisen sich für Friedensforscher und -forscherinnen zwei Aspekte als dringlich: Erforderlich ist erstens ein fortwährendes Austarieren: Darauf verweisen nicht nur Debatten über die Zivilklausel. Auch stellt die Praxisorientierung für Friedensforscher und -forscherinnen eine stete Gratwanderung dar: Zum einen verfolgen sie den Anspruch, mit ihren Handlungsempfehlungen gehört zu werden; zugleich gehen sie die Gefahr ein, von politischen und zivilgesellschaftlichen Akteuren für ihre Ziele im Sinne eines „Flankenschutzes“ missbraucht zu werden. Benötigt wird hier eine immer neu zu justierende Balance von Nähe und Distanz.
Zweitens bedarf es der Transparenz: sowohl im Hinblick auf das eigene Selbstverständnis als auch in Bezug auf die Vorgehensweise. Unerlässlich ist bei Letzterem auch ein ehrlicher Ausweis verfolgter mono-, inter- beziehungsweise transdisziplinärer Ansätze und ihrer Schwierigkeiten, auch einer sich in diesem Kontext abzeichnenden Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Denn auch wenn Inter- und Transdisziplinarität oft gefordert wird, wird sie nur selten betrieben. Dieser Sachverhalt ist zumindest offenzulegen.
Weiterführende Literatur:
Bonacker, Thorsten. 2011. Forschung für oder Forschung über den Frieden? Zum Selbstverständnis der Friedens- und Konfliktforschung. In Friedens- und Konfliktforschung, hrsg. von Peter Schlotter und Simone Wisotzki, 46-77. Baden-Baden: Nomos. Mit dieser im Beitrag diskutierten Frage markiert der Autor einen wichtigen Wendepunkt im Selbstverständnis der Friedensforschung.
Jaberg, Sabine. 2009. Vom Unbehagen am Normverlust zum Unbehagen mit der Norm? Zu einem fundamentalen Problem der neueren Friedensforschung. Hamburger Beiträge zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Heft 152. Hamburg: IFSH. Dieser Text setzt sich in Reflexion zweier historischer Debatten – der Tyrannei der Werte und dem Werturteilsstreit – kritisch mit den Argumenten der Skeptikerinnen und Skeptiker einer normativen Wissenschaft auseinander und plädiert für die Beibehaltung einer wert- und normbasierten Friedensforschung.
Zeitschrift für Internationale Beziehungen 19 (1). Die Zeitschrift veröffentlicht in diesem Heft die Beiträge des von ihr im Oktober 2011 organisierten Symposiums zum Verhältnis zwischen den Internationalen Beziehungen und der Friedens- und Konfliktforschung. Hier finden sich die zum Teil konträren Positionen unter anderem von Michael Brzoska, Tanja Brühl, Harald Müller und Klaus Schlichte.