Qualitative Medienforschung. Группа авторов
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Der Auswahl eines Medienangebots folgt die eigentliche Auseinandersetzung mit dem Medieninhalt auf der Basis thematisch voreingenommenen Sinnverstehens sowie unter Anwendung von Strategien der Rezeptionssteuerung: Der Rezeptionseinstieg kann direkt oder mit Unterbrechungen erfolgen. Weiterhin kann zwischen verschiedenen illusiven (hier nicht als Täuschung, sondern als ergriffener Mitvollzug einer fiktiven Welt gemeint) respektive inlusiven (distanziertes Miterleben) Rezeptionsmodi (Rapp 1973) gewählt werden (TV-Programme können kommentiert oder passiv-selbstversunken angeschaut werden etc.). Darüber hinaus sind verschiedene Formen der Distanzierung zum Mediengeschehen (vorübergehende Distanzierung, Parallelhandlungen, vorübergehende Unaufmerksamkeit etc.) und der Beendigung des Medienkonsums (vorzeitiger Rezeptionsabbruch etc.) praktizierbar, gefolgt von der Frage, wie sich das Anschlussgeschehen gestaltet (erneuter Medienkonsum, andersartige Beschäftigung etc.).
Auf einer abstrakteren Ebene lassen sich spezifische Rezeptionshaltungen und -stile unterscheiden: Man kann sich dem Medienangebot – wie erwähnt – emotional gleichsam überlassen, womit es zu einer Form von unmittelbarem Miterleben kommt, das ganz im Zeichen von Illusion und Identifikation steht (aber auch hier lassen sich im Übrigen die soeben beschriebenen Distanzierungsstrategien zur Nähe-Distanz-Regelung einsetzen), oder der Rezipient setzt sich während des Sehens oder Hörens immer wieder reflexiv mit dem Medienangebot auseinander (etwa wenn er mit den Medienakteuren, laut oder leise, zu diskutieren beginnt), oder ein Rezipient kommentiert das Gesehene in den sozialen Medien oder auch mit anwesenden Ko-Rezipienten, deren Anwesenheit ihm wichtig ist (z. B. die Freundinnenclique, die zusammen eine Soap anschaut, resp. die Freundesclique, die zusammen Horrorfilme goutiert) – hier können sich individuelle Rezeptionsstile herausbilden wie z. B. der »coole Analytiker«, der die Mörder immer findet, oder der »hartgesottene Profi«, der auch die schlimmsten in einem Horrorfilm gezeigten Grausamkeiten ohne Wimpernzucken erträgt.
Ein Blick in die Handlungspraxis gemeinsamen Fernsehens zeigt, dass die Zuschauer dabei viel sprechen, wobei die Kommunikation meist knapp und komprimiert erfolgt, was dazu geführt hat, sie als »Häppchenkommunikation« zu bezeichnen. Diese »empraktische«, d. h. handlungsbegleitende Ko-Kommunikation, erfüllt situativ und ökonomisch angemessen spezifische Funktionen (z.B. Kooperationsorganisation, Verstehen und Deuten, Bewerten, sich Vergnügen [Lästern]), ohne dass dabei das Fernsehgeschehen verpasst würde) (Baldauf/Klemm 1997). Dies gilt übrigens auch für die Kommentierungen von Fernsehangeboten in den sozialen Medien (Michel 2015).
Das Ende eines Filmanschauens oder einer Lektüre darf nicht mit dem Ende des Rezeptionsprozesses gleichgesetzt werden. Es schließt sich in der Nachphase eine Aneignungsphase an, die für die Identitätsbewahrung von besonderer Bedeutung ist. In dieser Phase wird das Rezipierte an die eigene Lebenssituation assimiliert, oder der Rezipient akkomodiert seine Sicht der Dinge an die dargebotene Perspektive des Medien-anderen (parasoziale Interaktion mit einem medialen anderen i.S. des generalized other nach George H. Mead). Die Vermittlungstätigkeit zwischen Subjekt und kulturellem Angebot ist zeitlich nicht begrenzt: Häufig geht das Gespräch mit sich selbst (intrakommunikative Medienverarbeitung) in ein Gespräch mit anderen (interkommunikative Medienverarbeitung) über. Dies kann während der Rezeption (s. o.), unmittelbar nach ihr oder oft auch zeitversetzt erfolgen (am nächsten Morgen am Arbeitsplatz oder beim nächsten Treffen im Freundeskreis). Solche Re-Thematisierungen im Rahmen von Folgekommunikationen können aspekthaft vorgenommen werden (kurze Medienverweise) oder großflächig erfolgen (umfangreiche Medienrekonstruktionen), implizit (Medienspuren) oder explizit. Für viele Serienfans gehört das »Gespräch danach«, oder auch das Twittern zum Tatort, konstitutiv zum Anschauen der jeweiligen Sendung dazu, sie rezipieren die aktuelle TV-Folge also schon auf das spätere Gespräch oder das begleitende Twittern hin. Dann ist es bereits zu einer Verknüpfung von eigentlicher Rezeptionssituation und späterer Kommunikationssituation mit relevanten anderen gekommen, auf der Basis dessen, dass man etwas mit ihnen teilen möchte, sich also im Gespräch mit einem Gegenüber sozial verorten will. Die Förderung resp. Beeinträchtigung dieser Vermittlungsaktivität hängt insbesondere von der Art und Weise ab, wie gewohnte Darstellungs- und Denkschablonen bei der ästhetischen Gestaltung des Medienthemas transzendiert werden und eine Auseinandersetzung mit der Sachwelt, der sozialen Umwelt sowie mit sich selbst und seiner sozialen Positionierung monologisch oder dialogisch angeregt wird.
Die Medienkommunikation eröffnet wichtige Handlungsoptionen, die in natürlichen Face-to-Face-Situationen nicht gegeben sind: So entlastet z.B. die Fernsehrezeptionssituation von Handlungsverpflichtungen, das heißt, man kann fiktiv am Handlungsgeschehen teilnehmen, ohne dass man in dieses real verstrickt wäre und spezifischen Handlungsverpflichtungen nachkommen müsste. Die Rezeption von Medienangeboten ermöglicht somit eine besondere Art von identitätsrelevantem »Probehandeln«: Der Rezipient kann sich in seinem Prozess der Identitätsaushandlung aus der Sicht konkreter Bildschirmakteure resp. intersubjektiver Perspektive sehen und erkennen (Spiegelung; Looking-glass self [Charles H. Cooley]). Insofern die dargebotenen Identitätsangebote über die Routinen des Alltags hinausweisen, erfährt der Rezipient die Chance einer Horizonterweiterung. Medienerfahrungen sind also entsprechend von anderer Qualität als die in Face-to-Face-Beziehungen gewonnenen. Im Alltag werden diese beiden Formen von Erfahrung in spezifischer Weise verknüpft: Was im »stillen Kämmerlein« aus einem spezifischen Grund angeschaut wird (z. B. Soaps und das Vergnügen an Klatsch-Kommunikation), kann in der interpersonalen Folgekommunikation ganz anders begründet werden (z. B. Rechtfertigung der Soap-Rezeption durch berufliche Gründe im Kontext späterer Gespräche mit Kollegen). Damit wird ersichtlich, dass die Rezeption von Medienangeboten als ein längerer Prozess, als eine »Kaskade von Rezeptionsakten« (Krotz, 1997, S. 82) aufzufassen ist, die über die Rezeption einer einzelnen TV-Sendung weit hinausgehen, in dem mediale und interpersonale Kommunikationen sowie intra- und interkommunikative Prozesse in ein komplexes Verschränkungsverhältnis eintreten.
Für die beschriebenen Rezeptionsphänomene ist die Annahme der Aktivität und Autonomie des Rezipienten eine notwendige Voraussetzung. Nur wenn davon ausgegangen werden kann, dass Rezipienten über ihre Medienauswahl und den Verlauf der Auseinandersetzung mit einem Medienangebot wirklich selbst bestimmen können, macht es Sinn, von der Rezeption als einem komplexen und vor allem auch selbstverantworteten Geschehen zu sprechen. Die Frage ist jedoch, ob diese Annahme unter den Bedingungen des gegenwärtigen Mediensystems überhaupt zu halten ist. Insbesondere die Anhänger der so genannten Cultivationhypothesis (Gerbner/Gross 1976) gehen davon aus, dass das Angebotsspektrum an Medienthemen in unserer heutigen Mediengesellschaft aufgrund von politisch-wirtschaftlichen Interessen eine spezifische Engführung und Gleichschaltung erfährt: Unpopuläre Informationen geraten in den Hintergrund, während modische Themen doppelt und dreifach in den Medien verhandelt werden (»Schweigespirale«). Entsprechend wird die These formuliert, die inhaltliche Konsonanz der boulevardisierten Medienkommunikation übe eine nivellierende Wirkung auf die Rezipienten aus. Die Autonomie des Zuschauers finde demnach seine Grenzen an dem vereinheitlichten, entpolitisierten Themenangebot der Sender (»mainstreaming«). Der Weg wäre dann nicht mehr weit, bis der Medienkonsument im »kommunikativen Patt des Orientierungszirkels der Quotenmedien« (Schulze 1995) selbst aufgehe. Die Gegenposition wird z.B. durch dem Cultural-Studies-Ansatz verpflichtete Autoren (Stuart Hall, John Fiske) vertreten, die auf Seiten der Rezipienten die Rezeptionselemente von Eigensinn und Widerstand betonen: Medienprodukte, die sich als offene Texte (Umberto Eco) verstehen lassen, bieten einen großen