Qualitative Medienforschung. Группа авторов
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Der Agency-Ansatz in der Medienkommunikation
Der Agency-Ansatz in der Medienkommunikation begreift Medienhandeln konsequent als Form des sozialen, kommunikativen Handelns und wendet dies auf Medienumgebungen an. Dies betrifft sowohl die Kommunikation zwischen Medienprodukten und deren Rezipientinnen (z. B. Film und Fernsehsendungen) als auch die Kommunikation zwischen Menschen mittels Medien (z. B. soziale Medien wie Facebook). Der Ansatz ist dabei konsequent rezipientenorientiert, d. h., er vermutet keine Abhängigkeit der Agency von bestimmten Medien und deren Medialität, sondern betrachtet Agency als grundsätzlich vorhanden – allerdings moduliert durch bestimmte mediale und textuelle Strukturen und bestimmte Dispositionen der Rezipienten (vgl. Eichner 2014, S. 229). Diese Perspektive – ausgehend von den Rezipientinnen und Rezipienten und deren Agency – ist insofern bedeutsam, als dass sie auch eine irrtümliche Aktiv-Passiv-Dichotomie verhindert: In einer medienzentrierten Sichtweise entstanden beispielsweise Ansätze, welche die Möglichkeiten des Internets und die damit verbundene Transformation von Zuschauern in User, Produser und Co-Kreatoren und deren vermeintlich demokratisierendes Potenzial feierten und das Fernsehen als passives Medium abstempelten (zur näheren Erläuterung vgl. van Dijck 2009, S. 43). Wird Medienhandeln jedoch im oben beschriebenen Sinn als grundsätzlich agentischer Prozess konzeptualisiert, ist evident, dass Medienkommunikation immer aktives, sinnstiftendes und potenziell transformatives Handeln ist.
Am deutlichsten kommt der Bezug zur Agency in den Cultural Studies unter Rückgriff auf praxeologische Ansätze der Soziologie zum Tragen: Bereits in den späten 1970er-Jahren entwarf Stuart Hall in seinem Encoding/Decoding-Modell das Konzept der drei Lesestrategien, welches die Rezipientenaktivitäten radikaler fasste als der damalige dominante Nutzenansatz. Hall erkennt mit seinem Modell an, dass Rezipientinnen nicht automatisch der strukturellen Macht der Medien unterworfen sind, sondern kreative und soziale Ermächtigungsstrategien anwenden (vgl. Hall 1980). Sein Ansatz kann als maßgeblich für den folgenden paradigmatischen Wechsel vom Transmissionsmodell hin zum Bedeutungsmodell gesehen werden. Noch deutlicher auf die Handlungsbefähigung der Rezipienten bezogen gestaltete sich die Argumentation von Fiske (2009/1987), der – unter Rückgriff auf Barthes writerly und readerly texts – die Polysemie von Texten betont. Nicht der Text oder das Publikum sind in seinem Ansatz entscheidend, sondern dass sich Bedeutung im Akt der Rezeption überhaupt erst konstituiert (→ Winter, S. 86 ff.). In den 1990er-Jahren wurde Fiskes Ansatz insbesondere durch die aufkommenden Fan Studies (vgl. Jenkins 1992; Bacon-Smith 1992) aufgegriffen und seitdem vielfach weiterentwickelt (siehe z.B. Baym 2000; Hills 2002). Ein zentraler Argumentationsstrang bezieht sich dabei auf Michel de Certeaus Konzept des Poaching, verstanden als kreative und imaginative Textarbeit, in der Versatzstücke anderer Medien sowie Versatzstücke des eigenen Selbst in den jeweiligen Text integriert werden. Dieser wird in Folge unkontrollierbar, da er nicht nur im Sinne des Encoding/Decoding-Modells unterschiedlich interpretiert, sondern grundsätzlich verändert wird.
In Zeiten konvergierender Medienumgebungen, entgrenzter Medientexte und produzierender Mediennutzerinnen hat die Beschäftigung mit der Medien-Agency aktuelle Relevanz gewonnen und gerät jüngst verstärkt in das Blickfeld der Kommunikations- und Medienwissenschaft sowie der Mediensoziologie (siehe z.B. Couldry 2004; Eichner 2014; Evans 2011; van Dijck 2009). Die Ansätze konzeptualisieren Medienhandeln in Anlehnung an soziologische und praxeologische Handlungstheorien und tragen so zur Präzisierung des Rezeptionsaktivitätskonzepts (»audience activities«) bei. Couldry spricht in diesem Zusammenhang von media practices und betont damit die Rolle, die mediale Praktiken in einem hierarchischen Geflecht aus sozialen Alltagspraxen einnehmen – »the media practices’ role in the ordering of social life« (Couldry 2004, S. 128). Abweichend davon lässt sich Medienhandeln als umfassender Prozess begreifen, als Doing Media, der den vielschichtigen, der Rezeption vor- und nachgelagerten Aktivitäten sowie der zunehmenden multiplen und teils gleichzeitigen Mediennutzung Rechnung trägt. Eine weitere Richtung, durch die sowohl die Terminologie der Agency selbst als auch deren soziologische Wurzeln Beachtung finden, ist die Technoscience mit Ansätzen wie die der Actor-Network-Theory (Latour 2007), dem Konzept der Distributed Agency (vgl. Rammert/Schulz-Schaeffer 2002) oder dem Ansatz der Akteursfiktion (Werle 2002). Diese Ansätze beschäftigen sich mit unterschiedlichen Resultaten zu der Frage, wie und ob Technologien und Objekte in verschiedenen kommunikativen Settings zu Agenten, ausgestattet mit Agency, werden können.
Agency, Textualität und Affordance
Filmische Informationsverarbeitung und Agency
Um die »Blackbox« der Agency aufzubrechen und Handlung und Agency auch als erfahrbaren Moment beschreiben zu können, müssen die konkreteren Prozesse der Medienrezeption betrachtet werden. Einen fruchtbaren Ansatz für die Mikroprozesse der Rezeption liefert die Schema- und Skript-Theorie, die sich mit kognitiven Wahrnehmungsprozessen beschäftigt (siehe z.B. Fiske/Taylor 1984). Diesem Ansatz folgend ist Wahrnehmung schemageleitete Informationsverarbeitung, während derer Stimuli zu Wissenskategorien gebündelt werden. Mit dem Ansatz lässt sich erklären, wie Menschen in der Lage sind, aus der Fülle auf sie einstürmender Informationen durch Informationsreduktion Sinn zu generieren. Die Informationsverarbeitung geschieht dabei zugleich in Bottom-up-Prozessen – der Herausbildung neuer Schemata – und Top-down-Prozessen – der konzeptgeleiteten Einordnung in bereits existierende Schemata. In den Kommunikationswissenschaften – insbesondere in Verbindung mit Framing-Ansätzen – wurde das Modell vielfach herangezogen und weiterentwickelt, aber auch aufgrund seines inhärenten Reduktionismus kritisiert (vgl. dazu zusammenfassend Müller 2016, S. 68).
In der kognitiven Filmtheorie wurde die Schema- und Skript-Theorie ausführlich bei Bordwell (1989) für die Rezeption von Filmen operationalisiert. So bilden die ästhetischen, narrativen und dramaturgischen Gestaltungsmittel filmische Cues (Hinweise), auf deren Grundlage die Zuschauerinnen und Zuschauer Hypothesen bilden, die sich im weiteren Verlauf der Rezeption bestätigen oder auf Grundlage neuer Informationen verworfen und neu angepasst werden. Medienkommunikation stellt dabei in der Regel keine gänzlich neue Situation dar, sondern beruht auf früheren Seh- sowie auf lebensweltlichen Erfahrungen, die sich bereits zu Schemata verfestigt haben (ebd., S. 144 ff.). Je konventionalisierter ein Hinweis ist, desto leichter lassen sich die entsprechenden Schemata aufrufen. Das Prinzip der Schemata ist insofern basal, als dass es nicht nur erklärt, wie man die Komplexität eines medialen Stimulus reduziert, sondern die Welt an sich, um überhaupt interpretations- und handlungsfähig zu bleiben. Schemata sind somit verkörperlichte Prototypen, die typische Situationen speichern. Medienprodukte können aber auch neue Ereignisse einführen oder »Leerstellen« enthalten (Iser 1994, S. 236). Leerstellen sind unklare Hinweise oder Auslassungen, die potenziell offen sind für unterschiedliche Interpretationen. Genresignale, Cues und Leerstellen bilden so eine Appellstruktur, welche die Rezipienten adressiert, zur Kommunikation auffordert und so ein Aktionsangebot darstellt. Ein Verständnis von der jeweiligen Textualität – sei es eine narrative, spielerische oder informierende Organisationsform – ist damit die Voraussetzung, um den kommunikativen Prozess zwischen Rezipientinnen und Medientexten zu erfassen.
Neben einem grundsätzlichen Verständnis der Interpretationsleistung oder der interpretativen Agency (Couldry 2013, S. 14), wie es insbesondere die Cultural Studies unter Rückgriff auf die