Qualitative Medienforschung. Группа авторов

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verknüpft. Der Begriff hat seine Wurzeln zwar in der klassischen Sozialwissenschaft (Thorstein Veblen, Georg Simmel, Max Weber), wird heute in der Marktforschung aber häufig einfach als Verhaltensmuster im Konsum- und Freizeitbereich definiert und dabei manchmal auch in »soziales Milieu« übersetzt. Einem solchen Milieu werden die Menschen nach ihren Aktivitäten, Werten oder Einstellungen zugeordnet.

      Auch der Begriff »Habitus« hat eine lange ideengeschichtliche Tradition, wird aber heute vor allem mit der Soziologie Pierre Bourdieus verbunden (vgl. Wiedemann 2014, S. 88). Habitus steht dort für den Versuch, den Dualismus von Handeln und Struktur zu überwinden (vgl. Park 2014, S. 3), und wird in der Literatur deshalb auch als Mittelweg »zwischen Subjektivismus und Objektivismus« beschrieben (Schwingel 2005, S. 73 f.). Von Anhängern des Lebensstil-Konzepts ist Bourdieu vorgeworfen worden, den Menschen zum Gefangenen der gesellschaftlichen Strukturen und vor allem seiner sozialen Position zu machen. Diese Vorwürfe sind richtig und falsch zugleich. Wenn man annimmt, dass soziale Unterschiede nahezu unbedeutend geworden sind und dass deshalb heute jeder Mensch relativ frei von den Vorgaben einer sozialen Position und ohne Not im »Raum der Möglichkeiten« seinen eigenen Lebensentwurf wählt, dann kann man mit Bourdieu nicht viel anfangen (vgl. Schulze 1992). Der Habitus ist bei ihm nicht angeboren, sondern speist sich aus den Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Leben macht. Diese (individuellen und kollektiven) Erfahrungen wiederum hängen in erster Linie von der sozialen Position ab und führen zu »Systemen dauerhafter Dispositionen«, die als »strukturierende Strukturen« wirken (Bourdieu 1976, S. 165), als »Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata« (Bourdieu 1987a, S. 101). Übersetzt: Der Habitus legt fest, was möglich ist – wie ein Akteur die Welt wahrnimmt, wie er andere bewertet, welchen Geschmack er hat, wie er denkt und handelt, wie er seinen Körper präsentiert und wie er sich bewegt (Bourdieu 1976, S. 165–167). Bourdieu selbst hat zwar jede Festlegung auf ein bestimmtes methodologisches Lager abgelehnt und z. B. auch mit Statistiken gearbeitet (vgl. Park 2014), gerade das Habitus-Konzept aber, das versucht, individuelles Handeln mithilfe der Lebensgeschichte zu erklären, legt einen qualitativen Zugang nahe.

      Lebensstil

      Der Lebensstil-Begriff wurde in den 1960er-Jahren wiederbelebt, um Umfrageergebnisse besser strukturieren und so das Kaufverhalten genauer vorhersagen zu können (vgl. Meyen 2004, S. 41–43). Offenbar genügten die traditionellen Merkmale sozialer Ungleichheit wie Einkommen, Beruf, sozialer Status, Bildung, Geschlecht, Alter und Wohnortgröße nicht mehr. Die entsprechenden Typologien sind ebenso bekannt wie die Versuche, möglichst griffige Bezeichnungen zu finden. Da steht der »Spaßorientierte« dem »Häuslichen« gegenüber, der »Sachbearbeiter« aus dem Harmonie- dem »Studenten« aus dem Selbstverwirklichungsmilieu und der »flexible Privatfunk-Nutzer« dem »Medien- und Kulturvermeider«. Schon diese Namensvielfalt lässt das Problem ahnen: Was taugen solche Typologien? Diese Frage stellt sich umso schärfer, wenn man erstens weiß, dass die Ergebnisse von Cluster- oder Faktorenanalysen stark von den Vorgaben der Forscher abhängen, und zweitens die Interessen berücksichtigt, die z. B. hinter der Mediennutzertypologie von ARD und ZDF stehen (Vermarktung von Werbezeiten, vgl. Eckert/Feuerstein 2015). Alexander Haas hat untersucht, ob sich ein Medienmenü (alles, was ein Nutzer insgesamt an Medienangeboten nutzt) besser über die klassischen soziodemografischen Merkmale erklären lässt oder über Lebensstil-Modelle (hier am Beispiel der Sinus-Milieus). Das Ergebnis fiel eindeutig zugunsten der Soziodemografie aus (vgl. Haas 2007). Die Konsumentenforschung wusste schon vor 20 Jahren (also lange vor dem Trend zur Singularisierung), dass sich ein Drittel der Menschen und mehr anders verhalten als der Typ, zu dem sie eigentlich gehören müssten (Gleich 1996, S. 603).

      Der schwedische Kommunikationswissenschaftler Karl Erik Rosengren (1996) hat das Konzept des Lebensstils modifiziert und darauf hingewiesen, dass alle Handlungen (und damit auch die Nutzung von Medienangeboten) durch strukturelle, positionelle und individuelle Merkmale und Bedingungen determiniert seien. Rosengren hat drei Typen von Handlungsmustern unterschieden:

      Lebensformen sind dabei strukturell bestimmt – Handlungsmuster, die Menschen, die in Industriegesellschaften leben, von denen in Agrargesellschaften unterscheiden, Großstadt- von Dorfbewohnern und muslimische Länder von der westlichen Welt.

      Der Begriff »Lebensweise« zielt auf die Position des Menschen, auf Geschlecht, Schicht, Alter und Bildung. Die Hochschullehrerin abonniert andere Zeitungen als der Fernfahrer (oder würde es zumindest gern, wenn sie denn Zeit zum Lesen hätte), und ein 17-Jähriger, der auf ganz verschiedenen Gebieten noch auf der Suche ist, hat andere Bedürfnisse als eine 80-Jährige, die kein Wissen mehr akkumulieren muss und die niemand mehr fragt, welche Bücher sie gerade liest.

      Als Lebensstile bezeichnete Rosengren dagegen die Handlungsmuster, die individuell bestimmt sind und nicht von der gesellschaftlichen Struktur und von der Position, die der Mensch gerade besetzt – Handlungsmuster, die der Einzelne mehr oder weniger bewusst selbst gestaltet und bei denen er seinen Werten und Überzeugungen folgt.

      Natürlich gibt es weder Lebensformen noch Lebensweisen oder Lebensstile in Reinkultur. Alltagshandeln ist vielmehr immer eine Mischung aus allen drei Arten von Handlungsmustern. Rosengren hat deshalb davor gewarnt, den hier definierten »Lebensstil« mit Lebensmustern einzelner Menschen zu verwechseln. Der persönliche Lebensstil sei etwas ganz anderes. Mit Rosengrens Modell lässt sich vor allem der Einfluss individueller Merkmale bestimmen und die Frage beantworten, welchen Spielraum der Mensch bei der Gestaltung seines Lebens hat. Wie wirkt sich beispielsweise der Wert »Sicherheit in der Familie« auf den Musikgeschmack aus – wie stark im Vergleich mit positionellen Merkmalen (Geschlecht, Schicht, Bildung), wie stark im Vergleich mit strukturellen Merkmalen (Leben in der Großstadt etwa)?

      In der qualitativen Medienforschung eignet sich das Modell nicht nur für die Erklärung unterschiedlicher Muster im Umgang mit Medienangeboten, sondern auch für die Auswahl von Untersuchungsteilnehmern. Mit seinen Begriffen »Lebensform« und »Lebensweise« liefert Rosengren Hinweise auf Determinanten der Mediennutzung und damit mögliche Kriterien für Studien, die mit dem Verfahren der theoretischen Auswahl arbeiten (vgl. Meyen u.a. 2011, S. 67–73). Das Wort »Hinweise« ist dabei mit Bedacht gewählt. Es ist zwar einleuchtend, dass strukturelle und positionelle Merkmale und Bedingungen alle Handlungen mitbestimmen, die Skala der möglichen Faktoren aber scheint nach oben offen zu sein. Rosengren selbst hat die positionellen Merkmale Alter, Geschlecht, Bildung und Stellung im Beruf genannt. Wie sieht es mit dem Einkommen aus, wie mit Zahl und Alter der Kinder sowie mit der Familiengröße? Ist nicht der Begriff »Lebensphase« viel besser als »Alter«? In einem Vierpersonenhaushalt mit zwei Kleinkindern läuft der Alltag ganz anders als bei einem Single. Bei den strukturellen Determinanten ist Rosengren noch allgemeiner geblieben und hat nur drei Bereiche aufgezählt: den Grad der Industrialisierung, die Urbanisierung und die Religion. Deckt dies die gesamte Bandbreite ab? Welche Rolle spielen Traditionen (beim Thema Mediennutzung auch überlieferte Rezeptionsmuster), welche das politische System und das Medienangebot und welche das Klima, die Geografie und die Bevölkerungsdichte? Diese Fragen sollen zeigen, dass hinter dem Lebensstil-Modell von Rosengren ein ähnliches Problem steht wie hinter vielen Arbeiten aus der Uses-and-Gratifications-Tradition (vgl. Meyen 2004, S. 15–48): Es fehlt eine Sozialtheorie, die das Verhältnis von Handeln und Struktur konzeptualisiert und damit erlaubt, Untersuchungsdesign und Ergebnisse nachzuvollziehen.

      Habitus I: Theoretische Grundlagen

      Ein Beispiel für eine solche Sozialtheorie ist die Soziologie Bourdieus, die den Anspruch hat, alle Spielarten menschlichen Handelns und unterschiedlichste Strukturen erklären zu können und sich deshalb nicht nur in der Mediennutzungsforschung anwenden lässt, sondern in nahezu allen Feldern der Kommunikationswissenschaft (vgl. Wiedemann/Meyen 2013; Park 2014). Bei Bourdieu werden wir von dem Wunsch angetrieben, uns von anderen Menschen abzuheben. »Ein Punkt, ein Individuum in einem Raum sein« und damit »etwas bedeuten«, heiße nichts anderes als »sich unterscheiden« (Bourdieu 1998, S. 22). Real ist für Bourdieu die Beziehung zu den anderen, der Abstand zum Gegenüber. Dieser Abstand wird

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