Qualitative Medienforschung. Группа авторов
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Die beiden anderen zentralen Denkwerkzeuge Bourdieus werden hier erwähnt, weil der Habitus untrennbar mit der Kapitalausstattung verbunden ist sowie mit den sozialen Feldern, in denen sich Menschen bewegen. Unsere Erfahrungen, die sich in den Habitus einschreiben, hängen von der Position ab (in sozialen Feldern, im sozialen Raum) sowie von den verfügbaren Kapitalien. Bei Bourdieu (1987a, S. 277) ist der Habitus der Rahmen für Handlungen, Einstellungen zu Handlungen und Ursachen von Handlungen – das »Erklärungsprinzip«, auf dem alles basiert und von dem alles abhängt. Das Konzept zielt zwar auf dauerhafte Dispositionen und betont, dass frühe Erfahrungen (etwa in der Kindheit) spätere formen, der Habitus ist aber nichts Starres und Unveränderliches, sondern wird immer wieder modifiziert. Obwohl der Habitus durch die Gesellschaft und durch die Stellung im sozialen Raum geprägt ist und obwohl die jeweils verfügbaren Ressourcen Handlungsgrenzen markieren, gesteht Bourdieu dem Menschen innerhalb dieser Grenzen sehr wohl Freiheit, Individualität und die Chance auf Innovationen zu. Der Habitus legt noch nicht »die Praktiken an sich« fest, sondern lediglich den »Spielraum«, in dem sich ein Akteur bewegt (Schwingel 2005, S. 69): Was ist möglich und was nicht? Welche Dinge schockieren uns, was ist undenkbar und was würden wir garantiert nie tun? Dieser Spielraum ist allerdings deutlich kleiner als in den extremen Varianten des Lebensstil-Konzepts.
Um konkrete Praxisformen (wie etwa die Nutzung einer Onlinezeitung, die Arbeit eines Nachrichtenredakteurs oder die Verwendung bestimmter Methoden in der kommunikationswissenschaftlichen Forschung) beschreiben und untersuchen zu können, hat Bourdieu vorgeschlagen, den Habitus analytisch zu teilen – in ein Opus operatum und einen Modus Operandi. Der Modus Operandi (wie und warum handelt man?) wird dabei durch das Opus operatum definiert, durch die persönliche Lebensgeschichte, die sich an äußerlichen Merkmalen festmachen lässt (Alter, Geschlecht, Aussehen, Körpergröße), an der Sozialisation (Herkunft, Ausbildung, Berufsstationen) und an der aktuellen Lebenssituation (Familie, Kinder, Kapitalausstattung, Aktivitäten außerhalb des Berufs, Zukunftsperspektiven). Anders ausgedrückt: Im Opus operatum (im »Ursprung« des Habitus) wird die soziale Position sichtbar. Der Kapitalbesitz einer Person wird inkorporiert und so in dauerhaften Dispositionen Teil des Habitus – Bildung beispielsweise als kulturelles Kapital. Das System dieser Dispositionen ist nicht starr, sondern wird immer wieder modifiziert (vgl. Bourdieu 1987b, S. 105–107).
Im Modus Operandi wird der Habitus zum »Erzeugungsprinzip von Praxisformen« (Bourdieu 1976, S. 165). Wie Spieler, die Spielregeln verinnerlicht haben, handeln Menschen entsprechend ihres Habitus, ohne sich dessen bewusst sein zu müssen (Bourdieu 1998, S. 24). So ist auch »rational« vorherbestimmt (ebd., S. 17), ob jemand regelmäßig online Nachrichten liest oder mit Freunden chattet. Dass wir über solche Voraussetzungen normalerweise nicht nachdenken und auch ihre Entstehungsgeschichte vergessen, erfasst Bourdieu mit dem Konzept des »praktischen Sinns«, der wie ein Instinkt funktioniert und Akteuren erlaubt, »auf alle möglichen ungewissen Situationen und Mehrdeutigkeiten der Praxis zu reagieren« (Bourdieu 1987a, S. 190 f.). Die Habitus-Kapital-Feld-Theorie ist deshalb auch als »goldener Mittelweg« zwischen den »beiden Extremen« beschrieben worden, die soziale Praxis entweder »in einer Mechanik struktureller Zwänge« sehen oder als Ergebnis »freier Entscheidungen« (wie etwa im Lebensstil-Konzept). Habitus (»Leib gewordene Geschichte«) und Feld (»Dingcharakter gesellschaftlicher Verhältnisse«) gehören bei Bourdieu zusammen, weil »die objektiven sozialen Strukturen den Habitus ebenso strukturieren« wie dieser die Praxis (Schwingel 2005, S. 73 f.).
Folgt man Bourdieu, dann ist menschliches Handeln nicht ohne den Habitus und ohne die soziale Position zu erklären. Das hat Folgen für das Untersuchungsdesign – vor allem für die Kategorien, die meine Untersuchung leiten, und damit dann z. B. auch für den Leitfaden, mit dem ich in Interviews gehe, und für die Ergebnisse, die ich aus entsprechenden Gesprächsprotokollen ableite (vgl. Löblich 2016). Um den praktischen Sinn zu verstehen, den ein Mensch etwa mit der Nutzung von Medienangeboten verbindet (Habitus als Modus Operandi), muss ich wissen, wie er sozialisiert wurde, wie er lebt und über welche Dispositionen er verfügt (Habitus als Opus operatum), wie viel Kapital er besitzt und wie sich dieses Kapital zusammensetzt (Position im sozialen Raum). Außerdem dürften Medienangebote auch genutzt werden, um Kapital zu akkumulieren (Kapitalmanagement), um die eigene Position zu erkennen und um diese Position zu markieren. Diese Form des Identitätsmanagements kann über soziale Netzwerke erfolgen, über Fernsehsendungen oder über Internetseiten für Spezialinteressen – Angebote, die sowohl dazu dienen, Signale in den sozialen Raum zu senden (das ist mein Kapital, diesen Normen und Werten fühle ich mich verpflichtet), als auch diesen Raum zu beobachten und so die eigene Position zu bestimmen. Zeitungen, Zeitschriften, TV-Sendungen oder Internetangebote versprechen kulturelles und symbolisches Kapital und können darüber hinaus zum sozialen und zum ökonomischen Kapital beitragen (vgl. Meyen u.a. 2009). Bei Bourdieu streben letztlich alle Menschen nach Kapital, um sich von anderen abzuheben und ihre Position zu verbessern. Da allerdings erstens in jedem sozialen Feld eine andere Kapitalmischung Erfolg verspricht und da die Investition in bestimmte Kapitalarten zweitens auch von der Einschätzung der eigenen Position und damit der Erfolgsaussichten abhängt, unterscheiden sich die Mediennutzer sowohl bei der konkreten Kapitalakkumulation als auch in der Bedeutung, die sie Medien insgesamt oder einzelnen Anwendungen zuschreiben (vgl. Jandura/Meyen 2010).
Habitus II: Anwendungen in der qualitativen Medienforschung
Neben Untersuchungen zur Mediennutzung und zur Medienaneignung (vgl. Meyen 2007; Scherer 2013) wird Bourdieus Soziologie in der qualitativen Medienforschung überall dort genutzt, wo menschliches Handeln im Mittelpunkt steht (vgl. die Überblicksdarstellungen in Park 2014 und Wiedemann 2014 sowie die Beispiel-Arbeiten in Wiedemann/Meyen 2013): in der Journalismusforschung (hier vor allem in Studien zum journalistischen Selbstverständnis, zum Arbeitsalltag in Redaktionen, zu den Beziehungen zwischen Journalisten und Politikern sowie zur Kodifizierung von journalistischer Qualität), im Bereich Organisationskommunikation und Public Relations (etwa wenn es um den Berufshabitus geht, um die Kapitalformen, die im Feld geschätzt werden, oder um strategische Kommunikation), in der Medieninhaltsforschung (Stichworte Sprache, symbolische Macht und Autorität), in der Mediensystemforschung (Beziehungen zwischen Medienangebot und sozialem Raum) sowie in der wissenschaftssoziologisch orientierten Fachgeschichtsschreibung. Thomas Wiedemann (2012) hat das Habitus-Konzept in seiner Biografie von Walter Hagemann z. B. erstens geholfen, das Untersuchungsmaterial einzuschränken und zu strukturieren, und zweitens intersubjektive Nachvollziehbarkeit gesichert – ein zentrales Qualitätskriterium gerade bei qualitativ angelegten Fallstudien.
Einige Arbeiten nutzen Bourdieus Terminologie auch für Kollektivbiografien. Solche Gruppenporträts stützen sich auf vergleichsweise große Datensätze (etwa: alle Vertreter einer bestimmten Professoren-Generation oder möglichst viele und theoriegeleitet ausgewählte Akteure eines nationalen journalistischen Feldes) und beschreiben eine Art Norm: Wie alt war der »durchschnittliche« Professor oder die »durchschnittliche« Journalistin, als er oder sie in das jeweilige Feld eintraten, welche Qualifikationen und welche Herkunft waren für die erste feste Stelle nötig und wann gab es eine Beförderung? Wie war die Situation 1975, wie 1990 und wie 2010? Die entsprechenden Werte helfen dann, individuelle Karrieren einzuordnen und zu bewerten. Die Beschreibung eines Kollektiv-Habitus macht auch deshalb Sinn, weil sich die Position der sozialen Felder im sozialen Raum genauso unterscheidet wie die Position von Subfeldern oder Akteuren in einem bestimmten Feld selbst. Kommunikationswissenschaft und Medienforschung z. B. sind im wissenschaftlichen Feld eher in einer untergeordneten