Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland. Bernhard Schäfers

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Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland - Bernhard Schäfers

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Verständnis

      Gesellschaft im soziologischen Verständnis bezeichnet sozial- und soziologiegeschichtlich zunächst jene Form des menschlichen Zusammenlebens, die als bürgerliche Gesellschaft die ständisch-feudale Ordnung überwand.

      Die Aufklärung und die bürgerlichen Revolutionen seit dem 17. Jahrhundert verstärkten den Trend zur Herausbildung eigenständiger Handlungssphären für die Bürger. Die Entwicklung wurde durch die Französische Revolution 1789 ff. und die Herausbildung der Nationalstaaten – mit den Bürgern als Staatsbürgern (citoyens) – beschleunigt. Der Rechtsstaat soll die Gleichheit aller Bürger garantieren, die bürgerliche Handlungssphäre schützen und zugleich dem Staatsbürger die Grenzen seiner individuellen Freiheit aufzeigen. Eine für Deutschland wichtige Konzeption dieses Modells der bürgerlichen Gesellschaft stammt von Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831). In seiner »Philosophie des Rechts« (zuerst 1821) werden die bürgerliche Familie, die Gesellschaft und der Staat als Basisinstitutionen in ein Verhältnis gesetzt.

      Sieht man von Vorläufern ab – Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897), Lorenz von Stein (1815–1890) –, so hat erst Ferdinand Tönnies (1855–1936) einen spezifisch soziologischen Gesellschaftsbegriff entwickelt. In »Gemeinschaft und Gesellschaft« analysierte er die Entwicklung von der ständisch-feudalen, agrarischen Gesellschaft zur modernen städtisch-industriellen Gesellschaft mit ihren Trends der Anonymisierung sozialer Beziehungen und der Verselbstständigung der Individuen als autonom handelnden Personen. So lässt sich nach Tönnies Gesellschaft denken, »als ob sie in Wahrheit aus getrennten Individuen bestehe, die insgesamt für die allgemeine Gesellschaft tätig sind, indem sie für sich tätig zu sein scheinen« (Tönnies 1963 : 251).

      Dieses Gesellschaftsmodell hatte theoriegeschichtlich Aufklärung und Liberalismus, materiell-praktisch die Industrielle Revolution zur Voraussetzung. Der englische Sozialhistoriker Eric Hobsbawm spricht daher von der Doppelrevolution (1962 : 1), in der sich die jeweiligen Elemente in einem Prozess der Beschleunigung wechselseitig vorantreiben, wobei die Forderungen nach Freiheit und Gleichheit sowie die Verbesserung der Lebenssituation die Haupttriebfedern sind (über Beschleunigung als Grundkategorie der Moderne vgl. Koselleck 1989 : 76 ff.). Zu den Grundlagen dieser industriell-bürgerlichen, liberal-rechtsstaatlichen Gesellschaft gehören:

       Freisetzung des Einzelnen zu selbst gewählter Familienbildung, Berufswahl, freier Wahl von Wohnort und Arbeitsplatz, Zugehörigkeit zu Vereinen.

       Ablösung ständischer und städtischer Formen der gesundheitlichen und sozialen Fürsorge durch gesamtgesellschaftliche bzw. staatliche Institutionen.

      Voraussetzung für das Wirksamwerden dieser Forderungen und Trends der gesellschaftlichen Entwicklung war die Ausdifferenzierung und relative Autonomie der gesellschaftlichen Teilbereiche: Recht, Politik, Wirtschaft, Religion und Kirche, Kultur und Bildung, Arbeit und Freizeit.

      Gesellschaft in diesem Verständnis wird in allen soziologischen Makrotheorien thematisiert. Im Strukturfunktionalismus, der für die Entwicklung der Sozialstrukturanalyse wichtig war, von Talcott Parsons (1902–1979) und Robert K. Merton (1910– 2003), in der Systemtheorie von Niklas Luhmann (1927–1998), in der Theorie der Frankfurter Schule und in der Modernisierungstheorie. Für Luhmann ist Gesellschaft »das umfassende soziale System, das alle anderen sozialen Systeme in sich einschließt« (1998 : 78).

      Der Begriff Struktur findet sich in allen Wissenschaften; er zielt auf den Zusammenhang der jeweils konstitutiven Elemente in einem abgrenzbaren Bereich der dem Menschen zugänglichen Wirklichkeit. In der Soziologie gehört der Begriff – wie Institution, Organisation, System – zu den ältesten einer spezifisch soziologischen Begriffsgeschichte. Im Strukturfunktionalismus erlangte er einen zentralen Stellenwert. Struktur verweist für alle sozialen Systeme zunächst auf den Tatbestand, dass diese durch Normen, soziale Rollen, durch Institutionen und Organisationen relativ dauerhaft eingerichtet sind und Handlungen anderer in ihrem Verlauf berechenbar werden.

      Sozialstruktur bezeichnet die Gesamtheit der relativ dauerhaften Norm- und Wertgefüge, der Rechtsgrundlagen, der politischen, ökonomischen und weiteren Institutionen und Handlungsmuster in einer Gesellschaft. Hierbei kommt jenen Elementen eine besondere Bedeutung zu, die die Integration und Identität des gesellschaftlichen Systems sichern.

      Rainer Geißler versteht unter Sozialstruktur »die Wirkungszusammenhänge in einer mehrdimensionalen Gliederung der Gesamtgesellschaft in unterschiedliche Gruppen nach wichtigen sozial relevanten Merkmalen sowie in den relativ dauerhaften sozialen Beziehungen dieser Gruppen untereinander« (2011 : 19; dort und bei Huinink/Schröder 2008 finden sich weitere Definitionen zu Sozialstruktur).

      Die Sozialstrukturanalyse hebt aus der Vielzahl der relevanten Elemente jene hervor, die für ein gesellschaftliches System und seine Integration zentral sind. Die Sozialstrukturanalyse ist zwar eine Momentaufnahme, berücksichtigt aber die Prozesse des sozialen Wandels, die zum gegebenen Zustand geführt haben und Ausgangspunkt weiterer Entwicklungen sind.

      Felder der Sozialstrukturanalyse:

       Bevölkerungsstruktur, Binnen- und Außenwanderungen (Migrationen);

       Familien, Lebensgemeinschaften und Haushalte;

       politisches System, Institutionen des Rechts und des staatlichen Handelns;

       Wirtschaftssystem: Eigentumsstrukturen, Produktionsstätten, Handel;

       Bildung und Ausbildung, Kultur, Kirchen und religiöse Gemeinschaften;

       Siedlungsformen wie Dörfer und Städte, Infrastruktur für Verkehr und Energie;

       Informations- und Kommunikationssysteme, deren Ausweitung auf allen Ebenen des sozialen Handelns die Basis der »Netzwerkgesellschaft« sind;

       Wandel der Klassen- und Schichtungsstrukturen, der Sozialmilieus und zeittypischen Ausprägungen der sozialen Ungleichheit.

      Die in der Soziologie übliche Unterteilung der Handlungs- und Strukturebenen in einen »Mikrobereich« des konkreten sozialen Handelns, einen »Mesobereich« der Institutionen und Organisationen und einen »Makrobereich« der gesellschaftlichen Strukturen lässt sich auch auf die Sozialstruktur und ihre Analyse übertragen. Karl Lenz (2002 : 336 f.) bezieht, die genannte Unterscheidung von Max Weber aufnehmend, makrosoziologische Fragen auf alle Prozesse und Strukturen der Vergesellschaftung, mikrosoziologische Fragen auf Prozesse und Strukturen der Vergemeinschaftung. Bei den Handlungsformen der Vergesellschaftung sind die Beziehungsmuster indirekt und anonym, bei den gemeinschaftlichen sind sie am Handeln naher und bekannter Personen orientiert.

      Für die Analyse der Sozialstruktur der deutschen Gesellschaft sind folgende Quellen und Datengrundlagen wichtig:

       Sozialstatistische Aspekte der Sozialstruktur, die sich in den Statistischen Jahrbüchern der Bundesrepublik, der Bundesländer, der Städte und Landkreise finden (sozialstrukturanalytisch aufbereitet im seit 1983 alle zwei Jahre erscheinenden Datenreport).

       Berichte der Bundes- und Landesministerien, der Städte und Landkreise über Zuwanderung und Integration, über Armut und Gesundheit, über Wohnversorgung usw.

      Datenhandbücher mit sozialstatistisch aufbereiteten langen Zeitreihen für verschiedene europäische Länder,

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