Transkulturelle Kommunikation. Michèle Kaiser-Cooke

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Transkulturelle Kommunikation - Michèle Kaiser-Cooke Studieren, aber richtig

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Der Ich-Erzähler interpretiert das Verhalten des Mannes auf Basis seiner Erfahrungen – und diese neue Erfahrung kann er nicht gut einordnen. Die Kommunikationssituation unterscheidet sich stark von den gewohnten, und die Ausdrucksweise ist nach Ansicht des Ich-Erzählers nicht normal.

      Aber was ist normal? In Kommunikationssituationen empfinden wir häufig das Gewohnte als „normal“. Das, was bereits aus früheren Situationen in ähnlicher Form bekannt ist, was sich offensichtlich bewährt hat und deshalb immer wieder in ähnlicher Form vollzogen wird.

      Kommunikatives Verhalten ist allerdings immer in einem Kontext zu sehen. Ohne den Kontext lässt sich nicht gut verstehen, was warum auf welche Weise kommuniziert wird. Das sehen wir im Beispiel von Mark Twain.

      Auch im folgenden Beispiel hilft der Kontext dabei, die Kommunikation einordnen zu können. Das Bild zeigt eine Handlungsanweisung auf der Tür-Innenseite einer Toilettenkabine in einem „westlichen“ Kaufhaus in Shanghai.

      Abb. 11:

      Handlungsanweisung in einer Toilette in Shanghai (Foto: SD)

      Hier ist es nützlich zu wissen, dass in Shanghai Hocktoiletten weitaus verbreiteter sind als Sitztoiletten – und von vielen auch als hygienischer empfunden werden, was wiederum eine Motivation dafür darstellen kann, die Sitztoilette ebenfalls als Hocktoilette zu verwenden. Die Kaufhausverwaltung sieht hier nun Kommunikationsbedarf und möchte jenen, die Sitztoiletten in Hocktoiletten „umfunktionieren“, vermitteln, dass dieses Verhalten nicht erwünscht ist. Hier kommt eine weitere Dimension ins Spiel: die Intention, die Absicht bzw. der Zweck, den die Kommunikation verfolgt, also das, was durch die Kommunikation erreicht werden soll. Die Mitteilung der Kaufhausverwaltung folgt einer klaren Intention. Kommunikation ist aber nicht immer so eindeutig einer bestimmten Intention zuzuordnen. Darauf werden wir später noch zurückkommen.

      Neben Kontext, Rahmenbedingungen und möglichen Intentionen ist auch die Rolle, die jemand in der Kommunikation einnimmt, eine wichtige Dimension der Kommunikationssituation. Und Kommunikationsrollen hängen wiederum mit der Beziehung der Kommunikationspartner*innen zusammen. Die Kaufhausverwaltung kommuniziert in einer anderen Rolle als die Journalistin oder die Wissenschaftlerin – oder die Frauen im informellen Gespräch untereinander.

      Wir haben nun also gesehen, dass Kommunikationssituationen durch unterschiedliche Dimensionen beschrieben werden können – und dass diese Dimensionen nicht nur mitbestimmen, wie kommuniziert wird, sondern auch, was kommuniziert wird – und was nicht. Was kann in einer bestimmten Situation, in einem bestimmten Kontext als selbstverständlich vorausgesetzt werden und muss nicht gesagt werden? Was gilt als bekannt? Und welchen Zweck soll die Kommunikation erfüllen, welche Intention steckt dahinter? Steckt überhaupt eine bewusste Intention dahinter?

      Um nachvollziehen und verstehen zu können, warum jemand in einer Situation was und wie kommuniziert, müssen wir also einiges über die Situation wissen, in der diese Person agiert.

      Auf den Punkt gebracht

      1 Kommunikationssituationen werden durch mehrere Dimensionen bestimmt.

      2 Zu diesen Dimensionen gehören Rahmenbedingungen (wie räumliche, zeitliche und soziale Nähe und Distanz), Medien, Adressat*innen, Kontexte, Intentionen und Kommunikationsrollen.

      3 Vorwissen und Erfahrungen spielen eine wichtige Rolle in der Kommunikation.

      4 Neue Kommunikationssituationen werden auf Basis früherer Erfahrungen mit Kommunikation interpretiert.

      5 Die Kommunikationssituation und die Beziehung zwischen den Kommunikationspartner*innen bestimmen nicht nur mit, wie kommuniziert wird, sondern auch, was kommuniziert wird.

      Zum Weiterdenken und Vertiefen

      1 Denken Sie an einen Insider*innen-Witz oder Gag in Ihrem Freund*innenkreis oder in Ihrer Familie. Stellen Sie sich vor, Sie müssten ihn einer Person erklären, die sie zum ersten Mal in Ihrem Leben sehen. Wie weit müssten Sie dabei ausholen? Welche Informationen müssten Sie mitliefern?

      2 Machen Sie einen Spaziergang in Ihrer Umgebung und achten Sie bewusst auf Gebots- und Verbotsschilder: Was wird kommuniziert? Und wie? In welchem Kontext sind diese Gebote und Verbote zu sehen?

      3 Stellen Sie sich vor, Mark Twains „Yankee aus Connecticut“ landet auf seiner Zeitreise im April 2020 und begegnet einigen Menschen, die ihm aus dem Weg gehen und Atemschutzmasken tragen. Wie würde er reagieren? Entwerfen Sie einen kurzen Dialog!

      3 Sprachkompetenz und Kommunikationskompetenz

      Die Art und Weise, wie Sprache verwendet wird, spielt eine wichtige Rolle in der Kommunikation. In der zitierten Szene in Mark Twains Roman spricht der Mann aus dem 6. Jahrhundert ein altertümliches Englisch und wird dadurch vom Ich-Erzähler als „Patient“ einer „Anstalt“ klassifiziert. Sprachverwendung – und damit auch Sprachkompetenz – ist also ein wichtiger Faktor in der Kommunikation, sowohl produktiv, also wenn wir Texte verfassen (beim Sprechen oder Schreiben), als auch rezeptiv, also wenn wir Texte verstehen wollen (beim Hören oder Lesen). Sprachkompetenz ist aber nicht der einzige Faktor. Denn wie wir gesehen haben, findet Kommunikation in konkreten Situationen statt, die auch in ein soziales Umfeld eingebettet sind. Und diese Situationen bestimmen mit, was und wie kommuniziert wird.

      Mark Twains Ich-Erzähler weiß (noch) nicht, dass er eine Zeitreise ins 6. Jahrhundert gemacht hat – und er zieht deshalb falsche Schlüsse aus der Situation. Dies führt zu einem Vorurteil: Jemand verhält sich anders als gewohnt und der Ich-Erzähler hält ihn deshalb vorschnell für nicht gesund, „nicht normal“. Genau genommen weiß der Ich-Erzähler aber nur zu wenig über den Kontext, in dem die Kommunikation stattfindet. Er verfügt zwar über ausreichend Sprachkompetenz, um zu verstehen, was der Mann aus dem 6. Jahrhundert ihm sagt, kann die Form „seemeth“ vielleicht sogar ungefähr historisch einordnen und weiß, dass es nicht besonders üblich ist, im 20. Jahrhundert so zu sprechen. Hätte er gewusst, dass er im 6. Jahrhundert gelandet ist, hätte er die Ausdrucksweise des Mannes sicherlich anders interpretiert – und wohl selbst von vornherein eine andere Frage gestellt.

      Es zeigt sich also, dass Kommunikationskompetenz etwas anderes ist als Sprachkompetenz. Mit Sprachkompetenz ist gemeint, dass jemand eine Einzelsprache wie etwa Deutsch, Tschechisch oder Portugiesisch auf einem bestimmten Niveau beherrscht. Niveaustufen – für Fremdsprachenkenntnisse – wurden im Europäischen Referenzrahmen für Sprachen beschrieben und standardisiert (mit den Niveaubeschreibungen für A1, A2, B1, B2, C1 und C2). Sprachbeherrschung hilft dabei, Äußerungen zu verstehen und zu produzieren, Kommunikationskompetenz verweist aber noch auf anderes: nämlich auf die Fähigkeit, sich in der Mehrdimensionalität von Kommunikationssituationen zurechtzufinden, Äußerungen von anderen vor diesem Hintergrund zu verstehen und einordnen zu können und auch selbst funktionierende Äußerungen in einem Kontext produzieren zu können. Damit dies in einer bestimmten Sprache klappt, braucht man allerdings auch Sprachkompetenz.

      Sprachen stellen wir uns manchmal als abstrakte Systeme vor, die einfach da sind und die Mittel bereitstellen, die wir in der Kommunikation dann verwenden. Das ist aber genau genommen eine konstruierte Vorstellung, denn in der Realität kommt Sprache immer in ganz konkreten Verwendungssituationen vor. Der Soziolinguist Alastair Pennycook nennt dies Language Practice, auf Deutsch ist oft von Sprachpraxis und Sprachpraxen die Rede. Damit wird betont, dass Sprache eng mit sozialen Kontexten

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