Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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verstehen, einerseits als diejenige Natur, die in angemessener Weise erforscht wird und andererseits als diejenige Natur, die das Ergebnis von Naturalisierung darstellt. Letzteres bezeichnet eine moralisch aufgeladene Natur, die den Individuen vorschreibt, wie sie sich selbst moralisch zu verstehen haben und handeln sollen. Die moralisch aufgeladene naturalisierte Natur ist das Ergebnis von Kultur und sichert eine bestehende gesellschaftliche Ordnung. In dieser Weise sind weitgehend alle Aussagen über die Natur »der Frau« bzw. »des Mannes« durch Kritik aufgelöst worden. In der Perspektive der Naturalisierungskritik kann es fraglich werden, ob es überhaupt noch möglich ist, zwischen deskriptiv zu erfassender Natur und naturalisierter Natur zu unterscheiden. Damit wird die Unterscheidung zu einer solchen, die im Verschwinden begriffen ist, ohne verschwinden zu können. Vor allem in der Geschlechterforschung gibt es Autorinnen, die entsprechend argumentieren. Danach sei es sinnlos, zwischen biologischer Natur und kulturellen Handlungsanforderungen (Rollen) zu trennen. Denn bereits die Tatsache, dass zwischen den Geschlechtern unterschieden wird, würde diese in ein asymmetrisches Machtverhältnis bringen. Entsprechend wird »Natur« als ein Effekt von Herrschaftssicherung begriffen. Damit wird Natur als ein eigenständiger und unabhängig von Normen gemäß dem Kausalprinzip zu untersuchender Bereich tendenziell in die Analyse von Normbildung aufgelöst. Trotzdem hält man auch in dieser Diskussion an der Natur-Kultur-Unterscheidung fest. Wenn eine kulturelle Ordnung dadurch gestützt wird, dass sie als natürliche Ordnung »getarnt« ist, handelt es sich um einen Vorgang, den es kritisch aufzuklären gilt. Die Enttarnung der Natur als naturalisierte Natur ist nur dann ein sinnvolles Vorgehen, wenn die normative Natur-Kultur-Unterscheidung als Hintergrundannahme aufrechterhalten wird, die festlegt, dass es falsch ist, Kultur als Natur auszugegeben. Die Theorie reflexiver Modernisierung situiert diese besondere Variante der normativen Natur-Kultur-Unterscheidung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit dieser Zeit würden gesellschaftliche Selbstverständlichkeiten, die zuvor als durch Natur vorgegeben galten, zunehmend in die Kritik geraten. »Natur« wird nun als Ergebnis gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse begriffen, es würde also offensichtlich, dass es sich um naturalisierte Natur handelt (Lau/Keller 2001).

      Die sich daraus ergebenden Probleme sind vor allem in der feministischen Diskussion auf sehr hohem Niveau verhandelt worden. Die Spannung zwischen Natur und naturalisierter Natur ist im Fall des Rassismus nahezu vollständig zugunsten der naturalisierten Natur aufgelöst worden. Niemand behauptet ernsthaft, dass es sinnvoll sei, rassenbezogene Unterschiede zwischen Menschen zu machen. Im Fall der Geschlechterunterscheidung liegt der Fall anders. Hier bleibt es eine offene Frage, ob Natur vollständig in naturalisierte Natur aufgelöst werden kann.2

3.Die zivilisatorische Bedeutung der Natur-Kultur-Unterscheidung

      Das zivilisatorische Verständnis der Natur-Kultur-Unterscheidung geht zurück auf Gustav Klemm3 und wird zunächst in der Anthropologie über Edward B. Tylor vermittelt (Kroeber/Kluckholm 1952: 19) und später auch in der Soziologie prominent. Kultur wird hier als etwas Universelles zum Menschsein Gehöriges verstanden und bezeichnet den Grad der Kultivierung, den Menschen bzw. eine Gruppe von Menschen erreicht haben (Kroeber/Kluckholm 1952: 19). In diesem Verständnis [88]wird Kultur synonym mit Zivilisation verwandt und bezeichnet ein komplexes Ganzes. »Culture or Civilization, taken in its wide ethnographic sense is that complex whole which includes knowledge, belief, art, law, morals, custom, and any other capabilities and habits acquired by man as a member of society.« (Tylor 1871: 1) Kultur in diesem Verständnis sei eine kollektive Schöpfung des Menschen, »die einer fortschreitenden Bewegung zur Vervollkommnung unterliegt« (Descola 2011: 121). In dieser Perspektive werden Gesellschaften daraufhin untersucht, wie sie sich vom Naturzustand entfernen und inwiefern ihre jeweiligen kulturellen Institutionen eine zunehmende Vervollkommnung zeigen. Der Mensch und die natürliche Umwelt des Menschen werden nicht nur als gestaltbar verstanden, sondern sie entwickeln sich zu immer höheren und anspruchsvolleren Gestaltungen. Diese Konzeption prägt das Gesellschaftsverständnis der Anthropologie und der Soziologie im 19. und bis weit in das 20. Jahrhundert hinein.

      Bereits Klemm hatte Kultur auch in einem materiellen Sinn verstanden, sie schließt nämlich die Kultivierung des Bodens, den Ackerbau und damit insgesamt dasjenige ein, was später als »materielle Kultur« (Braudel 1979/1990: 16) bezeichnet wird. Dieser Ansatz bestimmt im Grundsatz auch das Gesellschaftsverständnis von Marx und später von Durkheim. Beide beziehen explizit die materielle Infrastruktur der Vergesellschaftung ein (Durkheim 1895/1991: 113f, Marx 1890/1977: Kap. 13). Insofern unterlaufen sie die kantische Unterscheidung, denn Natur ist als zu kultivierende Natur bzw. als für Kultivierung offene Natur eng mit Kultur verbunden. Kulturelle Ordnungen werden getragen durch einen Prozess, den Marx als »Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur« bezeichnet (Marx 1890/1977: 57).

      Wie eng Natur und Kultur als miteinander verbunden gedacht werden, zeigt sich auch daran, wie Durkheim Moral begreift. In seinen Schriften zur Moral schließt er direkt an die kantische Differenzierung zwischen dem Menschen als Naturwesen und als sittliches normorientiertes Wesen an. Die Existenz verbindlicher moralischer Regeln definiert Durkheim über zwei Momente, nämlich »das Gute und die Pflicht« (1924/1976: 85). Bezogen auf den Pflichtcharakter der moralischen Regel bezieht sich Durkheim explizit auf Kant, ergänzt dessen Auffassung aber dahingehend, dass eine moralische Regel auch dasjenige bestimme, was erstrebenswert ist. Dass moralische Regeln einen verpflichtenden Charakter hätten, führt Durkheim darauf zurück, dass sie Elemente des gesellschaftlichen Kollektivbewusstseins seien, das Letztere sei dem individuellen Bewusstsein äußerlich und wirke auf es wie eine externe nötigende Kraft. Das individuelle Bewusstsein sei dadurch gekennzeichnet, dass es seine individuellen egoistischen Interessen verfolge. Damit eine Gesellschaft Bestand habe, müsse auf das Individuum Zwang ausgeübt werden. Die Legitimität dieses Zwanges ergibt sich für Durkheim daraus, dass lediglich der Sachverhalt der Vergesellschaftung den Menschen zu einem denkenden (Durkheim 1912/1984: 586) und moralischen (Durkheim 1924/1976: 105) Wesen mache. Durch Vergesellschaftung erhebt sich der Mensch über den Naturzustand, er kultiviert sich selbst als gesellschaftliches Wesen.

      Die Evolution der gesellschaftlichen Arbeitsteilung führe, so Durkheim, zu einer immer weitgehenderen Differenzierung der Gesellschaft. Es entstünden unterschiedliche Professionen, ausdifferenzierte gesellschaftliche Untergruppen, die auf je unterschiedliche Weise zur gesellschaftlichen Arbeit beitragen und damit voneinander abhängig werden (Durkheim 1930/1992: 238). Die Individuen gehörten in einer solchen Gesellschaft mehreren Untergruppen an. Er ist Vater, Arzt und gehört einer politischen Gruppierung an usw. In allen Handlungsfeldern muss er unterschiedlichen Handlungsanforderungen gerecht werden und sich an den jeweiligen bereichsspezifischen moralischen Normen orientieren.

      Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen komme dem Individuum die Aufgabe zu, selbstständig die verschiedenen moralischen Handlungsorientierungen zu vermitteln. Das Individuum [89]werde so zu einem strukturellen Knotenpunkt der Vermittlung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Deshalb würde das Individuum selbst zum Gegenstand eines Kults (Durkheim 1930/1992: 227). Je weiter die Arbeitsteilung sich entwickele, »desto größeres Gewicht erlangt die Würde der Person« (Durkheim 1950/1999: 84). Damit tritt der bei Durkheim angelegte Fortschrittsgedanke deutlich hervor. Die geschichtliche Entwicklung geht dahin, durch Kultivierung der Natur zunehmend die Würde der individuellen Person durchzusetzen.4

      Diese optimistische Sichtweise, die auch Durkheims Vorgänger Auguste Comte teilte, war bereits von Marx, wenn auch zurückhaltend, in Zweifel gezogen worden. Seine Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses unter Einbeziehung der Landwirtschaft führte ihn zu dem Ergebnis: »Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen alles Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.« (Marx 1890/1977: 529f) Die sich darin andeutende Relativierung des Fortschrittsoptimismus gewinnt in der marxistisch inspirierten Kritischen Theorie erheblich an Bedeutung. Die Beziehung des Menschen zur Natur wird im Sinne einer »Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno 1947/1971) gedeutet, wobei die problematische Kehrseite der Aufklärung in den Vordergrund gerückt wird: die Notwendigkeit der Beherrschung der äußeren Natur und vor allem auch der inneren Triebnatur des Menschen. Die zerstörerischen

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