Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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      Während das zivilisatorische Verständnis der Natur-Kultur-Unterscheidung beide Bereiche eng miteinander gebunden hatte, wird im methodischen Verständnis dieser Unterscheidung Kultur von ihrem Bezug zur Natur abgekoppelt. Es gibt eine einheitliche durch allgemeine Gesetzmäßigkeiten bestimmte Natur; von dieser ist der Bereich der Kultur abzugrenzen, der sich durch eine interne Differenzierung in unterschiedliche Kulturen auszeichnet. Damit ist der Gedanke verabschiedet, dass es eine Kultur gibt, die in einer einheitlichen Perspektive fortschreitender Kultivierung untersucht werden kann. Das methodische Verständnis der Unterscheidung trennt Natur und Kultur und vermeidet es gerade dadurch, Kulturen in eine einheitliche Entwicklungsperspektive fortschreitender Kultivierung einzuordnen und entsprechend dem Grad ihrer Vervollkommnung zu bewerten. Alle von Menschen geschaffenen Kulturen sind in dieser Perspektive als im Prinzip gleichwertig anzusehen. Dieses Verständnis von Natur und Kultur ist, über Franz Boas vermittelt, prägend für die amerikanische Kulturanthropologie und allgemein für die anthropologische Forschung geworden (Descola 2011: 120–128).

      Da Natur und Kultur in diesem Verständnis keine ontologisch getrennten Bereiche bilden, es sich vielmehr nur um unterschiedliche methodische Zugangsweisen zu einer Welt handelt, können menschliche Gesellschaften grundsätzlich in beiden Perspektiven untersucht werden. Es lässt sich danach fragen, wie beide Perspektiven miteinander vermittelt werden können usw. Anthropologische, soziologische bzw. kulturwissenschaftliche Forschungen unterscheiden sich danach, wie sie sich im Spannungsfeld von erklärenden und verstehenden Zugängen zur Welt situieren (Greshoff et al. 2008).

4.2Die methodische Reflexion auf die Natur-Kultur-Unterscheidung

      Die Philosophie Kants bietet allerdings noch eine zweite Möglichkeit, das Verhältnis von Natur und Kultur zu denken, nämlich als Grenzziehung, die auch anders hätte ausfallen können. In diesem Sinn analysiert Plessner die methodische Aufspaltung des Weltzugangs als ein Kennzeichen des modernen westlichen Weltverständnisses. Dieses zeichnet sich durch zwei Merkmale aus: 1. Es gibt eine einheitliche Natur, die kulturunabhängig nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten funktioniert, sowie eine Vielfalt unterschiedlicher Kulturen. 2. Zwischen Menschen und anderen [93]lebendigen Wesen besteht ein grundlegender Unterschied, denn der Mensch sei nicht nur ein natürliches Wesen, sondern zugleich auch Schöpfer von Kulturen und das Subjekt von Moral. Aufgrund seiner Bestimmung als Natursowie Kultur- und Moralwesen müsse der Mensch in einem doppelten Vergleich gesehen werden: im vertikalen Vergleich mit anderen organischen Wesen und im horizontalen Vergleich zwischen den Menschen als Produzenten unterschiedlicher kulturell-moralischer Ordnungen.

      Der vertikale Vergleich begreift den Menschen als Naturwesen, d. h. als Teil der universalen einheitlichen Natur, und setzt ihn in Beziehung zu anderen Lebensformen, um so die Besonderheit der menschlichen Lebensform herauszuarbeiten. Der horizontale Vergleich begreift den Menschen als Schöpfer von Kulturen, der von seinen eigenen Produkten bestimmt wird. Die unterschiedlichen Kulturen seien als gleichwertig zu begreifen, da sie alle in gleicher Weise auf den Menschen als ihren Grund zurückgeführt werden können. Diese Matrix hat Viveiros de Castro (1998) später auf den Nenner »Mononaturalität und Multikulturalität« gebracht.

      Plessner entwickelt seine Argumentation in zwei Schritten. Er formuliert eine Anthropologie gemäß dem doppelten Vergleich und bindet diese sodann in eine historisierende Reflexion ein. »Die Stufen des Organischen und der Mensch« (Plessner 1928/1975) enthalten den vertikalen Vergleich, während »Macht und menschliche Natur« (Plessner 1931/1981) den horizontalen Vergleich entfaltet (vgl. hierzu Mitscherlich 2007). Dieser doppelte Vergleich bildet die Matrix der Moderne. Bei deren Analyse kommt es Plessner darauf an, die komplexe Balance der modernen Ordnung darzustellen und gegen Vereinseitigungen Stellung zu beziehen, die diese Ordnung als eine rein gesellschaftliche oder als eine rein natürliche Ordnung begreifen.

      Der doppelte Vergleich führt allerdings nicht zu einer positiven Anthropologie, sondern macht die im Vergleich gewonnene Anthropologie selbst reflexiv zum Gegenstand. Dadurch werden die anthropologische Ordnung der Moderne und das zu ihr gehörende Prinzip der Natur-Kultur-Unterscheidung insgesamt zum Gegenstand gemacht und als ordnungsbildendes Prinzip der Moderne begriffen. Daraus folgt: Wenn die beiden genannten Merkmale (Trennung von Natur und Kultur, Mensch als Kulturen schaffendes Wesen) die Ordnung der Moderne kennzeichnen, heißt das, dass andere Ordnungen möglich sind. Plessners (1928/1975, 1931/1981) Ausarbeitung der anthropologischen Ordnung der Moderne führt dazu, die Gültigkeit der Natur-Kultur-Unterscheidung und der in ihr enthaltenen Zentralstellung des Menschen auf die Moderne zu beschränken.9

      Die Möglichkeit anderer Ordnungen wird in einem zweistufigen Verfahren in den Blick genommen. Die erste Stufe besteht darin, auch die Trennung zwischen Natur und Kultur ausgehend vom Menschen als schöpferischem Subjekt zu begreifen.

      Von dieser Erfahrungsstellung (Mensch als schöpferisches Subjekt, GL) aus relativieren sich im Universalaspekt der den Planeten bedeckenden Völker ›ihre‹ Götter und Kulte, Staaten und Künste, Rechtsbegriffe und Sitten. Der für ›unseren‹ Aspekt sie alle umfassende Raum der Natur relativiert sich auf unser abendländisches Menschentum und gibt die Möglichkeit anderer Naturen frei. (Plessner 1931/1981: 149)

      Es wird alles relativ auf den Menschen als schöpferisches Subjekt gedacht. Auch die umfassende und einheitliche moderne Natur wird zu einem Resultat der schöpferischen Kraft des Menschen [94]und kann damit auf ein bestimmtes »Menschentum« hin relativ gedacht werden, auf das abendländische Menschentum. Demnach bildet der Mensch nicht nur sich selbst zu einem bestimmten Menschentum, sondern indem er das tut, bildet er auch eine dieses Menschentum umgebende Natur.

      Plessner bleibt aber nicht bei einer die vielfältigen Kulturen/Naturen ermöglichenden conditio humana stehen, sondern begreift diese selbst als ein geschichtlich gewordene Form der Welterschließung. Das Argument lautet,

      dass die Selbstauffassung des Menschen als Selbst-Auffassung, als Mensch im Sinne einer ethnisch und historisch abwandelbaren ›Idee‹ selbst ein Produkt seiner Geschichte bedeutet, die Ideen Mensch, Menschlichkeit von ›Menschen‹ eroberte Konzeptionen sind, denen das Schicksal alles Geschaffenen bereitet ist, untergehen – und nicht nur außer Sicht geraten – zu können […] (Plessner 1981: 163).10

      Die Theorie Plessners zeichnet sich durch eine hohe Selbstreflexivität aus. Deren Struktur lässt sich folgendermaßen skizzieren. Die Aussage – »der Mensch ist ein universales ordnungsbildendes Prinzip, auf das alle Ordnungen zurückgeführt werden können« – wird historisiert. Daraus folgt, dass es neben dem Menschen als ordnungsbildendes Prinzip noch andere ordnungsbildende Prinzipien geben kann, die auch nicht menschliche Wesen einbeziehen können. Damit relativiert sich der Mensch als ordnungsbildendes Prinzip, indem er sich neben mögliche andere Ordnungen mit anderen ordnungsbildenden Prinzipien stellt.

      Als einen ersten empirischen Hinweis darauf, dass es unterschiedliche Ordnungen geben kann, ist die materialreiche Studie von Descola (2011) zu nennen. Diese trägt allerdings den missverständlichen Titel »Jenseits von Natur und Kultur« (Descola 2011). Tatsächlich ist aber nicht ein Jenseits der Unterscheidung gemeint, vielmehr geht es um den Versuch, einen Punkt diesseits der Unterscheidung zu denken, von dem aus die Natur-Kultur-Unterscheidung als eine mögliche Form, die Welt zu ordnen, begriffen werden kann. Die Stärke Descolas liegt darin, die ethnologische Forschung in der Perspektive der Vielfalt möglicher Weltzugänge in einer sehr umfassenden Weise aufzubereiten. Er kommt zu dem Ergebnis, dass sich von der Ordnung des Naturalismus, die der westlichen Natur-Kultur-Unterscheidung entspricht, die Ordnungen des Animismus, Totemismus und Analogismus unterscheiden lassen. Letztere zeichnen sich dadurch aus, dass sie ohne eine Unterscheidung zwischen Natur und Kultur auskommen. Ich möchte es an dieser Stelle offen lassen, ob Descola das ethnologische Material zwanglos mit seinem viergliedrigen Ordnungsschema einfängt (s. u.), bzw. ob er diesem damit Gewalt antut. Bei aller möglichen Kritik gelingt es ihm überzeugend darzulegen, dass nicht jede Ordnung eines Weltzugangs an die Natur-Kultur-Unterscheidung gebunden ist.

4.3

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