Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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Nationalsozialisten ins Werk gesetzten Vernichtung all derjenigen zum Ausdruck, die sie als rassisch minderwertig deklarierten: Juden, Sinti und Roma sowie Menschen mit Behinderung. Dass die Kultivierung der Natur eine Fortschrittsgeschichte ist, die zu einer immer höheren Achtung vor dem menschlichen Individuum führt, sei seit dem Nationalsozialismus nicht mehr haltbar.

      Wenn man den Faschismus als eine deutsche Angelegenheit begreift, wird es fraglich, ob die Lehren Adornos und Horkheimers notwendigerweise auf das westliche von den USA, England und Frankreich repräsentierte Fortschrittsmodell zu übertragen sind. Dieses wurde erst seit den 1970er-Jahren einer breiteren Kritik unterworfen. Sie bezieht sich auf die Zerstörung der Natur durch den erhöhten und sich exponentiell steigernden Ressourcenverbrauch bedingt durch die wirtschaftliche Entwicklung und den steigenden Lebensstandard (Meadows 1972). Andererseits gerät das Fortschrittsmodell der Kultivierung auch deshalb in die Kritik, weil es dazu gedient habe und dienen würde, den Anspruch auf Überlegenheit und Führung von weißen Europäern und Amerikanern gegenüber den kolonisierten Ländern Afrikas und Asiens zu legitimieren und durchzusetzen (Said 1978/1981).

      Die Skepsis gegenüber der kultivierend-technischen Beherrschung der Natur prägt auch die bioethische Debatte um die Frage, ob es moralisch problematisch sei, Menschen biotechnisch zu optimieren (Habermas 2001). In dieser Diskussion spielt der Begriff der »Unverfügbarkeit« der Natur eine zentrale Rolle (Barkhaus/Fleig 2002, Manzei 2003, 2005), der doppeldeutig zwischen einer deskriptiven und moralischen Bedeutung oszilliert. Denn einerseits wird die Unverfügbarkeit des Körpers als ein Faktum begriffen, in diesem Sinn kann der menschliche Körper gar nicht vollständig durch einen technisch-kultivierenden Eingriff verfügbar gemacht werden. Andererseits ist diese Aussage auch normativ zu verstehen. Der Körper sollte auch gar nicht vollständig [90]verfügbar gemacht werden (Joas 2004: Kap. 10). Damit gelangt die Debatte zu einem moralisch aufgeladenen natürlichen Körper als Begründung ihrer Kritik. Ein derart moralisch aufgeladener Körper widerspricht aber den Grundlagen der normativen Natur-Kultur-Unterscheidung. In dieser Perspektive wäre der moralisch aufgeladene Körper als naturalisierte Natur zu begreifen, die ihrerseits wiederum einer Kritik unterzogen werden müsste. An diesem Beispiel wird ein allgemeines Problem vor allem der linken Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen deutlich. Dem normativen Verständnis der Natur-Kultur-Unterscheidung liegt eine rationale, erkenntniskritische Trennung der beiden Bereiche zugrunde. Sie begründet die Kritik an unzulässigen Naturalisierungen. Eine normative Aufladung des natürlichen Körpers ist damit ausgeschlossen. Diese bildet wiederum die Begründung der Kritik am kultivierend-technischen Zugriff auf die Natur. Wenn beide Denkfiguren gleichzeitig als Grundlage der Kritik gesellschaftlicher Prozesse verwendet werden, führt dies in ein Dilemma. Dies ist bislang kaum bemerkt, geschweige denn als Problem reflektiert worden.

4.Das methodische Verständnis der Natur-Kultur-Unterscheidung

      Das methodische Verständnis der Natur-Kultur-Unterscheidung entwickelte sich im Rahmen der Auseinandersetzung um die Wissenschaftlichkeit der G-SW bzw. der Kultur- und Sozialwissenschaften. Für diese Wissenschaftsgruppe stellte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Frage nach der Begründung ihres spezifischen Erkenntniszugangs zur Welt. Diese Diskussion ist als Erklären-Verstehen-Kontroverse bekannt geworden. Gemäß Apel (1979) lassen sich drei Phasen unterscheiden. Für die erste war die Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie Kants prägend.5 Das Problem war, ob und inwiefern die kritisch-erkenntnistheoretische Begründung der physikalisch-naturwissenschaftlichen Forschung, die Kant anerkanntermaßen mit der »Kritik der reinen Vernunft« (Kant 1787/1956) geleistet hatte (s. o.), für alle Wissenschaften gelten sollte oder nicht. Genauer: Sollte diese erkenntniskritische Begründung von Wissenschaft nicht nur für die Naturwissenschaften gelten, sondern auch für die im 19. Jahrhundert entstehende historisch-geisteswissenschaftliche Forschung und damit im Weiteren auch für die Soziologie? Das Argument lautet: Die Gegenstände der (Sozial- und) Geisteswissenschaften würden einen prinzipiell anderen methodischen Zugang erfordern, der sich durch »Verstehen« auszeichnet (vgl. Dilthey 1900/1924).

      Die Frage ist nun, inwiefern die Methode des »Verstehens« einen eigenständigen Erkenntniszugang zur Welt begründet, der einer grundlegend anderen Rationalität folgt, als das an allgemeinen Gesetzmäßigkeiten orientierte Erklären. Die Differenz dieser Zugänge lässt sich so zusammenfassen. Erklären heißt, dass der Beobachter einen sinnhaften Zusammenhang konstruiert, [91]etwa im Sinne eines Kausalverhältnisses (s. o.). Er beobachtet äußere Phänomene und untersucht, ob die beobachteten Elemente sich gemäß der von ihm postulierten Annahme verhalten. Die Kontrolle über die Situation wird durch die Konstruktion von Experimenten gesteigert. In diesem Fall schafft man eine materielle Anordnung, in der ein Ereignis bzw. eine Abfolge von Ereignissen ausgelöst wird. Zu prüfen wäre dann, ob die ausgelösten Ereignisse gemäß der durch den Forscher postulierten Annahme stattfinden. Dies kann eine reflexive Wendung auf den Beobachter einschließen. Denn die Konstruktion des Experiments stellt einen praktischen Eingriff in das zu untersuchende Feld dar, welcher den weiteren Ablauf der zu beobachtenden Ereignisse bestimmt. Dies muss berücksichtigt werden, wenn es um die Begrenzung der Gültigkeit experimenteller Aussagen geht.6 Für die Sozialwissenschaften gilt zudem, dass die Formulierung von Kausalaussagen aus methodischen Gründen anthropologische Minimalannahmen erfordert. Diese laufen in der Regel darauf hinaus, dass Akteure unter der Bedingung von Mangel versuchen, den eigenen Nutzen zu maximieren. Diese Annahme funktioniert forschungspraktisch wie eine an das Feld herangetragene gesetzesförmige Regel.7

      Ein verstehender Zugang zur Welt fordert andere forschungsleitende Annahmen. Danach gibt es Akteure, die für die Forscherin als ein anderes Ich erscheinen, welches seinem Inneren Ausdruck verleiht. Diese Individuen gilt es zu verstehen. Die Konzeption des Verstehens verschiebt sich, wenn die Forschung von einer Pluralität von Akteuren ausgeht, die einander als ein anderes Ich wahrnehmen und einander verstehen. Solche Akteure bilden einen geordneten Ausdruckszusammenhang, der als solcher zu verstehen ist. In den frühen Fassungen des Verstehens liegt der Schwerpunkt darauf, dass der Forscher/Historiker andere Individuen versteht. Bereits bei Dilthey und Misch, sowie später in der verstehenden Soziologie und den Kulturwissenschaften wird der Schwerpunkt anders gesetzt. Es geht darum, dass die Akteure des Feldes einander verstehen und in ihren wechselseitigen Bezügen Regeln hervorbringen, die ihr wechselseitiges Verstehen regulieren. Der Schwerpunkt der Analyse liegt nicht darauf, einzelne Individuen in ihrer Individualität zu verstehen, sondern die Regelhaftigkeit des Handlungs-, Interaktions- oder Kommunikationszusammenhangs. Verstehen heißt, die Regeln des wechselseitigen Verstehens zwischen den Akteuren des Feldes sinnhaft zu rekonstruieren (Misch 1929–30/1967).8

      Der besondere Erkenntniszugang der soziologisch-kulturwissenschaftlichen Forschung kann auf zwei unterschiedliche Weisen begründet werden. Einige Autoren schließen direkt an die kantische Unterscheidung von Natur und Normorientierung an, während andere die Grenzziehung zwischen diesen Bereichen zum Ausgangspunkt machen.

[92]4.1Die methodische Befestigung Natur-Kultur-Unterscheidung

      Historisch einflussreicher ist zunächst der erste Vorschlag gewesen. In diesem Sinne hatte Rickert (1898/1921) hervorgehoben, dass sich das Verstehen darauf richten müsse, an welchen Werten sich eine Kultur ausrichte. Rickert geht von universalen Werten aus, wobei einzelne Kulturen jeweils einer für sie spezifischen Wertorientierung folgen würden. In diesem Sinne könne man Kulturen anhand ihrer unterschiedlichen Wertorientierungen differenzieren, ohne dass es möglich ist, sie in ein wertendes Verhältnis zueinander zu setzen. In der soziologischen Adaption dieses Gedankens wurde nicht nur die Wertorientierung, sondern auch die Werte selbst als historisch kontingent aufgefasst. Die Werte, an denen sich Gesellschaften orientieren, seien selbst das Ergebnis historisch-gesellschaftlicher Prozesse, die es zu analysieren gelte. Die theoretischen Grundlagen hierfür werden von Georg Simmel (1908/1983: 22f) und Max Weber (1904/1988a, b) formuliert. In diesem Sinn wäre etwa die protestantische Ethik bzw. die Orientierung daran, Gewinne zu investieren, um noch mehr Gewinn zu machen, eine Wertorientierung. Diese Werte sind aber Weber zufolge nicht Elemente einer Gruppe universaler Werte, sondern sie sind als Werte selbst in einer historischen Situation

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