Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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übertragen. Diese lassen sich nur holistisch erfassen, denn die gemeinsam geteilten Anschauungen und Normen des Kollektivs gehen den Anschauungen und Überzeugungen des Einzelnen voraus und bestimmen diese.

      Durkheim begründet seine holistische Sichtweise des Sozialen in Auseinandersetzung mit der atomistischen Auffassung, »daß alle sozialen Beziehungen sich auf den Vertrag zurückführen lassen« (Durkheim 1988 [1893]: 450). Das vertragstheoretische Denken ist eine atomistische Herleitung des Sozialen, weil es alle sozialen und gesellschaftlichen Strukturen auf Vereinbarungen zwischen Individuen zurückführt, welche die Individuen zum Zwecke der Verfolgung ihrer individuellen [101]Interessen miteinander eingehen. Heute verbinden wir die vertragstheoretische Herleitung des Sozialen vor allem mit Thomas Hobbes und seinem Hauptwerk Leviathan (vgl. Hobbes 1980 [1651]: 112 ff., 155 ff.), Durkheim bezieht sich hingegen vorwiegend auf vertragstheoretische Überlegungen von Jean-Jacques Rousseau und Herbert Spencer. Gegen die Vorstellung, dass das Soziale seinen Ursprung und seine Grundlagen in der Übereinstimmung der Interessen von Individuen hat, die in Verträgen ihren Ausdruck findet, argumentiert Durkheim,

      daß jede Interessenharmonie einen latenten oder einfach nur vertagten Konflikt verdeckt. Denn wo das Interesse allein regiert, ist jedes Ich, da nichts die einander gegenüberstehenden Egoismen bremst, mit jedem anderen auf dem Kriegsfuß, und kein Waffenstillstand kann diese ewige Feindschaft auf längere Zeit unterbrechen. Das Interesse ist in der Tat das am wenigsten Beständige auf der Welt. Heute nützt es mir, mich mit Ihnen zu verbinden; morgen macht mich derselbe Grund zu Ihrem Feind. Eine derartige Ursache kann damit nur zu vorübergehenden Annäherungen und zu flüchtigen Verbindungen führen. (Durkheim 1988 [1893]: 260)

      Wenn die Interessen der Beteiligten die einzige Grundlage der Einhaltung von Verträgen wären, dann wären Verträge nicht besonders haltbar und auf keinen Fall ein denkbares Fundament sozialer Ordnung. Vielmehr ist es Durkheim zufolge so, »daß der Vertrag, wenn er eine bindende Kraft besitzt, diese der Gesellschaft verdankt. […] Jeder Vertrag setzt […] voraus, daß hinter den vertragschließenden Parteien die Gesellschaft steht, die einzugreifen bereit ist, um den von diesen Parteien eingegangenen Verpflichtungen Respekt zu verschaffen.« (ebd.: 165) Die inhärente Instabilität von Vereinbarungen, deren einzige Grundlage die Interessen der Beteiligten ist, hat zur Konsequenz, »daß der Vertrag sich nicht selber genügt; er ist nur möglich dank einer Reglementierung des Vertrags, die sozialen Ursprungs ist« (ebd.: 272). Es ist also »nicht alles […] vertraglich beim Vertrag« (ebd.: 267; vgl. ebd.: 450). Diese Formulierung aufgreifend, spricht Talcott Parsons von dem »nicht-vertraglichen Element im Vertrag« (Parsons 1968 [1937]: 319).3

      Talcott Parsons ist es auch, der Durkheims Überlegungen systematisiert und zu einem ausgearbeiteten Argument gegen die Möglichkeit einer atomistischen Erklärung der sozialen Ordnung aus individuellen Interessen weiterentwickelt. Parsons bezieht sich dabei vor allem auf die Überlegungen von Thomas Hobbes, was schon damit beginnt, dass er die Frage, wie in einer Gemeinschaft von Akteuren, die in ihrem Handeln eigene Ziele verfolgen, soziale Ordnung möglich ist, als das Hobbes’sche Problem bezeichnet (Parsons 1968 [1937]: 94, 314, 357): In Abwesenheit einer normativen Ordnung und unter der Bedingung, dass die Akteure danach streben, eigene Ziele zu realisieren, wäre ein Zustand des Krieges aller gegen alle die notwendige Folge. Alle Akteure würden zwangsläufig danach streben, durch List oder Gewalt Macht über andere Akteure zu gelangen, um sich diese im Interesse ihrer eigenen Ziele dienstbar zu machen (vgl. ebd.: 92; Hobbes 1980 [1651]: 112 ff.). Eine rein utilitaristische, d. h. auf individuellen Nutzenerwägungen beruhende Gesellschaft wäre also »chaotisch und unstabil, weil sie sich mangels Beschränkungen im Gebrauch von Handlungsmitteln – insbesondere von Gewalt und Betrug – notwendig in einen grenzenlosen Machtkampfverwandeln würde« (Parsons 1968 [1937]: 93 f.). Hobbes zufolge gibt es nur einen möglichen Ausweg aus diesem Problem: In Form eines Gesellschaftsvertrags, d. h. eines Vertrages »eines jeden mit einem jeden« (Hobbes 1980 [1651]: 155), einigen [102]sich die Gesellschaftsmitglieder aus eigenem Interesse darauf, »ihre natürliche Freiheit an eine hoheitliche Autorität abzugeben, die ihnen im Gegenzug Sicherheit garantiert, also Schutz gegen gewaltsame oder betrügerische Angriffe durch andere« (Parsons 1968 [1937]: 90; vgl. Hobbes 1980 [1651]: 155 f.).

      Das zentrale Problem dieser Lösung ist, dass jene zentrale Autorität dem Einfluss des interessengeleiteten Handelns der Akteure entzogen sein muss, um unter den genannten Bedingungen soziale Ordnung garantieren zu können. Dann aber kann sie in ihrer Entstehung und in ihrem Fortbestand nicht utilitaristisch – also als Resultat von individuellen Nützlichkeitsüberlegungen – erklärt werden, wie es Hobbes vorschlägt.4 Dieser Einwand, der in großer Klarheit in Richard Münchs Rekonstruktion der Handlungstheorie Parsons’ dargelegt wird (vgl. Münch 1982: 35–37), führt Parsons zu dem Schluss, dass es auf einer strikt utilitaristischen Grundlage keine Lösung für das Problem der sozialen Ordnung gibt (Parsons 1968 [1937]: 93).

      Aus der Tatsache, dass Gesellschaften mit hinreichend stabiler sozialer Ordnung existieren, folgt im Umkehrschluss dann, dass die Individuen ihre Ziele nicht ausschließlich auf der Grundlage ihrer jeweiligen Nutzenüberlegungen bestimmen. Denn aus der Existenz sozialer Ordnung folgt, dass die Akteure gemeinsame Ziele verfolgen, diese Gleichgerichtetheit kann nach dem zuvor Gesagten aber nicht Ergebnis individueller Nutzenüberlegungen sein. Erklärbar wird die Existenz sozialer Ordnung dagegen, wenn man annimmt, dass die Ziele der Akteure gar nicht so individuell zweckbezogen generiert werden wie Hobbes und andere Vertragstheoretiker unterstellen, sondern unter dem Einfluss gemeinsamer Wertorientierungen. Diese Annahme, so Parsons, »eröffnet einen Weg, die Grundlage gesellschaftlicher Ordnung als ›immanent‹, im Charakter der Gesellschaft selbst angelegt, zu interpretieren« (Parsons 1968 [1937]: 238). Dies wiederum entspricht genau der Auffassung Durkheims, dass die Allgemeinheit sozialer Phänomene ihren Ursprung im Kollektiv hat und nicht in den Individuen: Das soziale Leben ist »unmittelbar aus dem kollektiven Sein abzuleiten« (Durkheim 1984 [1895]: 203), und zwar »deshalb, weil das soziale Leben der besonderen Formung entspringt, der die einzelnen Psychen vermöge der Tatsache ihrer Assoziation unterliegen und aus der eine neue Existenzform entsteht« (ebd.).

      Die Annahme der gesellschaftlichen Vorgegebenheit normativer Strukturen ruft allerdings den Einwand hervor, dass man sich damit der Möglichkeit begibt, die Entstehung der – in ihrer Existenz dann immer bereits vorausgesetzten – normativen Zusammenhänge zu erklären. Um die Entstehung normativer Strukturen zum Gegenstand soziologischer Theoriebildung machen zu können, müsse man, so James S. Coleman, mit einer Handlungstheorie beginnen, die von Individuen ausgeht, welche sich »unbeeinträchtigt von Normen und völlig eigennützig verhalten« (Coleman 1991: 38). Dann aber bleibt das Hobbes’sche Problem weiterhin ein Problem, für das nach einer atomistischen Lösung gesucht werden muss.

      Ein Lösungsweg, der von Coleman (1991: 350 ff.) vorsichtig beschritten und von Hartmut Esser (2000: 316 ff.) sehr optimistisch aufgegriffen worden ist, beruht darauf, das Hobbes’sche Problem als ein Problem der Bereitstellung von Kollektivgütern zu reformulieren. Kollektivgüter (oder öffentliche Güter) sind dadurch definiert, dass sie auch von denen genutzt werden können, die zu ihrer Bereitstellung nicht beitragen. Akteure, die profitieren ohne beizutragen, werden als Trittbrettfahrer bezeichnet. Die soziale Ordnung, also etwa der Umstand, dass man sich darauf verlassen kann, dass Verträge eingehalten werden, ist in diesem Sinne ein Kollektivgut. Das [103]Hobbes’sche Problem ist somit ein Trittbrettfahrer-Problem: Für jeden Einzelnen ist es unter individuellen Nutzengesichtspunkten am vernünftigsten Trittbrettfahrer zu sein. Dann aber kommt es gar nicht erst zur Produktion von Kollektivgütern bzw. zur unweigerlichen Zerstörung eines jeden Kollektivgutes, das aus welchen Gründen einmal existiert. Die Sanktionen, die eingeführt werden, um Akteure vom Trittbrettfahren abzuhalten, lassen sich als Kollektivgüter zweiter Ordnung fassen. Denn die Wirkung der Sanktionen kommt ja ebenfalls allen und auch denen zugute, die sich an den Sanktionskosten nicht beteiligen. Das Sanktionsproblem, also das Problem der Sicherstellung der Sanktionierung, ist dementsprechend das zugehörige »Trittbrettfahrerproblem zweiter Ordnung« (Coleman 1991: 350). Coleman argumentiert nun, dass »das Sanktionsproblem weniger kostenaufwendig [ist] als das ursprüngliche Problem« (ebd.: 352),

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