Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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dieser Sichtweise setzt sich die Praxistheorie ebenso wie der Interaktionismus von einem atomistischen und individualistischen Handlungsbegriff ab (Reckwitz 2004: 320 f.).

      Die Praxistheorie ähnelt dem Interaktionismus auch darin, dass die Praktiken als soziale Produkte betrachtet werden. Eigenständigkeit gegenüber interaktionistischem Denken gewinnt die Praxistheorie vor allem dadurch, dass sie diesen sozialen Produktionsprozess als einen Prozess ansieht, der sich ohne die bewusste Aufmerksamkeit der Akteure, gleichsam hinter ihrem Rücken vollzieht. Jede soziale Praxis ist aus praxistheoretischer Perspektive eine gemeinsame Gepflogenheit, die im stillschweigenden Wissen und Können der Beteiligten verankert ist. Dementsprechend bildet das gemeinsam geteilte stillschweigende Wissen und Können die unexplizierte Grundlage, die dem menschlichen Denken und Handeln ihren Sinn verleiht (vgl. Taylor 1995: 174; Schatzki 2001: 2 f.). Diese Position findet ihr theoretisches Fundament in der Überlegung von Ludwig Wittgenstein, dass es unmöglich ist einer expliziten Regel zu folgen, wenn man nur die Regel selbst kennt (und alle weiteren Regeln, die festlegen, wie die erste Regel (und alle weiteren Regeln) angewendet werden). Denn jede weitere Regel, die Fragen der Anwendung der ersten Regel regelt, ruft selbst wieder entsprechende Fragen hervor. Tatsächlich, so Wittgenstein, stützt man sich, wenn man einer expliziten Regel folgt, immer auf Gebräuche und Gepflogenheiten, die der Regel erst ihren spezifischen Sinn verleihen. »Darum ist ›der Regel folgen‹ eine Praxis.« (Wittgenstein 1984 [1953]: 345)

      Menschliches Verhalten nach dem Modell des bewussten und absichtsvollen Handelns erfassen zu wollen, ist aus praxistheoretischer Perspektive Ausdruck eines intellektualistischen Fehlschlusses (vgl. Reckwitz 2003: 290). Mit der Betonung des überwiegend impliziten und inkorporierten Charakters menschlichen Wissens und Könnens, verfolgen praxistheoretische Autoren das Anliegen, dieser Vorgehensweise zu Leibe zu rücken. Dieses Anliegen steht bereits im Zentrum der praxistheoretischen Überlegungen von Pierre Bourdieu. Bourdieu zufolge ist menschliches Verhalten wesentlich durch die Fähigkeit gekennzeichnet, »unabsichtlich und ohne bewußte [106]Befolgung einer ausdrücklich als solcher postulierten Regel sinnvolle und geregelte Praktiken hervorzubringen« (Bourdieu 1992: 99). Diese Fähigkeit führt Bourdieu auf sozialisatorische Prägungen zurück, die sich im Einzelnen als Denk-, Wahrnehmungs- und Verhaltensdispositionen niederschlagen und zusammen den Habitus der Person bilden. Sie bilden ein stillschweigendes, ein implizites Wissen und Können, das die Akteure befähigt »jenseits ausdrücklicher Reglementierung und des institutionalisierten Aufrufs zur Regel geregelte Praktiken und Praxisformen hervorzubringen« (Bourdieu 1979: 215).

      In Gestalt der Habitus-Feld-Theorie entwickelt Bourdieu aus seinen praxistheoretischen Grundüberlegungen eine holistische Sichtweise gesellschaftlicher Reproduktion, die über die Annahme eines Vorrangs von Handlungszusammenhängen gegenüber Einzelhandlungen weit hinausgeht: Die Dispositionen des Habitus sind sedimentierte Formen früheren Handelns und Erlebens in Gestalt dauerhaft eingeprägter Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, welche die Akteure dazu disponieren, ihre Welt ganz selbstverständlich und nicht weiter reflexionsbedürftig in einer bestimmten Weise zu interpretieren und in einer entsprechenden Weise zu agieren. Sie formieren sich als Wiederspiegelung der objektiven Bedingungen der sozialen Lage der Akteure, als »mit diesen Bedingungen objektiv vereinbare und ihren Erfordernissen sozusagen vorangepaßte Dispositionen« (Bourdieu 1987: 100). Dadurch sind die Akteure zugleich auch habituell dazu disponiert, solche Praktiken zu produzieren, die es ihnen erlauben, sich in der jeweiligen sozialen Position, in der sie sich befinden, nicht nur zurechtzufinden, sondern auch zu Hause zu fühlen, was die Reproduktion der bestehenden gesellschaftlichen Struktur begünstigt: »Als Produkt der Geschichte produziert der Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte nach den von der Geschichte erzeugten Schemata« und gewährleisten damit »die Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen« (ebd.: 101). Es ist klar: Den Habitus als sozial erzeugtes Erzeugungsprinzip des Sozialen zu reklamieren heißt, Soziales durch Soziales zu erklären.

3.Argumente für den Atomismus

      Der in den letzten hundert Jahren wirkungsgeschichtlich einflussreichste Vorschlag eines atomistischen Erklärungsprogramms in den Sozialwissenschaften ist sicherlich der methodologische Individualismus Max Webers, demzufolge soziale Phänomene »›individualistisch‹, d. h.: aus dem Handeln der Einzelnen« (Weber 1972 [1922]: 9) zu erklären seien. Der Einfluss der sozialtheoretischen Grundannahmen auf den Erklärungsstil zeigt sich bei Weber deutlich. Er begründet die »›individualistische‹ Methode« (ebd.) ausdrücklich damit, dass seine handlungstheoretische Grundlegung der Soziologie eine Erklärung sozialer Phänomene aus dem Verstehen des individuellen Handelns erfordere:

      Handeln im Sinn sinnhaft verständlicher Orientierung des eignen Verhaltens gibt es für uns stets nur als Verhalten von einer oder mehreren einzelnen Personen. Für andre Erkenntniszwecke mag es nützlich oder nötig sein, das Einzelindividuum z. B. als eine Vergesellschaftung von ›Zellen‹ oder einen Komplex biochemischer Reaktionen, oder sein ›psychisches‹ Leben als durch (gleichviel wie qualifizierte) Einzelelemente konstituiert aufzufassen. Dadurch werden zweifellos wertvolle Erkenntnisse (Kausalregeln) gewonnen. Allein wir verstehen dies in Regeln ausgedrückte Verhalten dieser Elemente nicht. Auch nicht bei psychischen Elementen, und zwar: je naturwissenschaftlich exakter sie gefaßt werden, desto weniger: zu einer Deutung aus einem gemeinten Sinn ist gerade dies [107]niemals der Weg. Für die Soziologie (im hier gebrauchten Wortsinn, ebenso wie für die Geschichte) ist aber gerade der Sinnzusammenhang des Handelns Objekt der Erfassung. (ebd.: 6)

      Weber begründet die individualistische Methode der Erklärung sozialer Phänomene mit einem grundlegenden Unterschied zwischen sozialwissenschaftlichen und naturwissenschaftlichen Erklärungen: Für naturwissenschaftliche Forschung bildet demnach die beobachtende Erklärung das gegenstandsangemessene Vorgehen (vgl. ebd.: 8). Die sozialwissenschaftliche Forschung darf sich darauf nicht beschränken. Sie muss vielmehr die »Mehrleistung der deutenden […] Erklärung« (ebd.) erbringen. Denn naturwissenschaftliche Phänomene sind erklärt, wenn man die Regeln ihres Ablaufes kennt und gegebenenfalls funktionale Zusammenhänge benennen kann. »Aber an diesem Punkt«, so Weber (ebd.: 7),

      beginnt erst die Arbeit der Soziologie (im hier verstandenen Wortsinn). Wir sind ja bei sozialen Gebilden‹ (im Gegensatz zu ›Organismen‹) in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (›Gesetzen‹) hinaus etwas aller Naturwissenschaft (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ›Erklärung‹ der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das ›Verstehen‹ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen, während wir das Verhalten z. B. von Zellen nicht ›verstehen‹, sondern nur funktionell erfassen und dann nach Regeln seines Ablaufs feststellen können.

      Aus der handlungstheoretischen Perspektive Webers bestehen soziale Phänomene aus dem Zusammenwirken des Handelns von Einzelindividuen. Alle sozialen Gebilde sind »lediglich Abläufe und Zusammenhänge spezifischen Handelns einzelner Menschen« (ebd.: 6). Dieses Handeln versteht er als ein subjektiv sinnhaft motiviertes Verhalten, als ein Verhalten also, das stattfindet oder unterbleibt, weil der oder die Handelnde(n) mit ihm einen bestimmten Sinn verbinden oder nicht verbinden. Die Formulierung von Regeln, die den Ablauf eines sozialen Phänomens beschreibt, oder seine Verortung in einem funktionalen Zusammenhang reichen deshalb nicht aus, um das Phänomen zu erklären. Denn die betreffende Regelmäßigkeit oder den funktionalen Zusammenhang zu kennen, heißt nicht, dass man deshalb zugleich auch schon weiß, warum die involvierten Akteure in einer Weise handeln, die im Zusammenwirken der Beteiligten zu dieser Regelmäßigkeit oder jenem funktionalen Zusammenhang führt. Diese Frage kann erst das deutende Erklären beantworten. Stets beginnt deshalb, so Weber (1972 [1922]: 9), »die entscheidende empirisch-soziologische Arbeit erst mit der Frage: welche Motive bestimmten und bestimmen die einzelnen […] Glieder dieser ›Gemeinschaft‹, sich so zu verhalten, daß sie entstand und fortbesteht

      Im Bereich der Naturphänomene stellt sich die entsprechende

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