Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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Beantwortet dies die zuvor aufgeworfene Frage, wie normativ strukturiertes Handeln als Gegenstand einer atomistischen Erklärung des Sozialen reklamiert werden kann, wie dies bei Weber geschieht? Die Antwort scheint mir in doppelter Hinsicht »Nein« zu lauten, wobei der eine Einwand die Vorgegebenheit des gesellschaftlichen Wissensvorrates betrifft und der andere dessen Gegebenheitsweise als institutionalisiertes Wissen.

      Schütz und Luckmann sind der Auffassung, dass »die Vorgegebenheit eines gesellschaftlichen Wissensvorrats und die ›Sozialisierung‹ subjektiver Wissenselemente ausgeklammert werden« könnten, »ohne daß dadurch die Grundformen des subjektiven Wissenserwerbs verzeichnet« würden (Schütz/Luckmann 1979: 315; vgl. ebd.: 154 ff.). Subjektiver Wissenserwerb wäre mit anderen Worten grundsätzlich auch dann möglich, wenn es keinen vorgegebenen gesellschaftlichen Wissensvorrat gäbe. Was aber sind die Konsequenzen dieser Überlegung? Empirisch betrachtet wächst jedes Gesellschaftsmitglied in einer Umgebung auf, in der es auf eine Fülle vorgegebener Elemente des gesellschaftlichen Wissensvorrats stößt. Es dürfte dementsprechend, wenn überhaupt, ein seltener Ausnahmefall sein, dass subjektive Sinnbildung ohne Bezugnahme auf ein gesellschaftlich vorgeprägtes Auslegungsschema erfolgt. Auch wenn die sinnhafte Einordung des aktuellen Erlebnisses in den Sinnzusammenhang selbstverständlich eine subjektive Bewusstseinsleistung ist, lässt sich die erfolgte Sinnbildung aus diesem Bewusstseinsprozess allein nicht erklären. Die Berücksichtigung des Einflusses des vorgegebenen Auslegungsschemas muss hinzukommen, ein holistisches Element der Erklärung also.

      Damit ist noch nicht unbedingt gesagt, dass sich dieser Einfluss hinter dem Rücken der Akteure geltend macht. Denn wir wollen den Individuen die Fähigkeit ja nicht grundsätzlich absprechen, über den Sinn vorgegebener Sinngehalte sinnhaft reflektieren zu können. Wenn die gesellschaftlich vorgegebenen Sinnmuster allerdings in Form institutionalisierten Wissens vorliegen, ist diese Möglichkeit des subjektiv sinnhaften Nachvollzugs begrenzt. Denn institutionalisiertes Wissen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass die Individuen es mit fragloser Selbstverständlichkeit als gültig ansehen und demnach über den Sinn dieses Sinns gerade nicht reflektieren. Hier haben wir es dementsprechend in der Tat mit Sinnmustern zu tun, deren Wirkung auf das Denken und Handeln der Akteure sich hinter deren Rücken vollzieht – ein Einfluss des gesellschaftlichen Ganzen auf die Teile, der sich mit den Mitteln atomistischer Erklärung kaum angemessen erfassen lässt.

4.Atomismus und Holismus

      Dem atomistischen Erklärungsprogramm der handlungstheoretischen Soziologie geht es darum, die Erklärungsmöglichkeiten zu ergreifen, die sich aus dem Umstand ergeben, dass menschliches Handeln sinnhaft gesteuertes Verhalten ist. Dieses Anliegen hat Hartmut Esser mit dem folgenden Ausspruch sehr schön auf den Punkt gebracht: »Nicht die Konventionalregel des Grußes nimmt […] den Hut vom Kopf, sondern immer nur ein Akteur, der dafür seine Gründe hat.« [111](Esser 1993: 96) Esser sieht aber auch, dass die aktuelle Sinnbildung des Individuums durchaus hochgradig durch bestehende Sinnmuster strukturiert sein kann. Dann, so Esser (1999: 355), »reagieren menschliche Akteure – wie konditionierte Tauben oder Ratten – ganz spontan, intuitiv und automatisch darauf – und zwar in der Weise, wie das bis dahin in ähnlichen Situationen gelernt worden ist und üblich war«.

      Einige soziologische Ansätze sehen es als ausgemacht an, dass die Sinnbildung, die für die Strukturierung des Sozialen verantwortlich ist, sich wesentlich hinter dem Rücken der Akteure vollzieht. Dann reduziert sich das Handeln in der Tat im Wesentlichen auf die konditionierte Reaktion und der menschliche Akteur ist mit Blick auf die Hervorbringung sozialer Phänomene nicht viel mehr als ein »kultureller Depp« (vgl. Garfinkel 1967: 68). In diese Richtung gehen insbesondere die Praxistheorie und die soziologische Systemtheorie. Im Fall der Praxistheorie liest sich das dann so:

      Für die Praxistheorie ist es nicht die vorgebliche Intentionalität, sondern die wissensabhängige Routinisiertheit, die das einzelne ›Handeln‹ ›anleitet‹; dies schließt teleologische Elemente nicht aus, die Praxistheorie betrachtet diese jedoch nicht als explizite und diskrete ›Zwecke‹ oder ›Interessen‹, sondern als sozial konventionalisierte, implizite Motiv/Emotions-Komplexe, die einer Praxis inhärent sind, in die die einzelnen Akteure ›einrücken‹ und die sie möglicherweise als ›individuelle Interessen‹ umdefinieren. (Reckwitz 2003: 293)

      Und in der Sache ganz ähnlich urteilt Niklas Luhmann: »Beobachter können das Handeln sehr oft besser auf Grund von Situationskenntnis als auf Grund von Personenkenntnis voraussehen, und entsprechend gilt ihre Beobachtung von Handlungen oft, wenn nicht überwiegend, gar nicht dem Mentalzustand des Handelnden, sondern dem Mitvollzog der autopoietischen Reproduktion des sozialen Systems.« (Luhmann 1984: 229)5 Andere soziologische Ansätze plädieren dagegen dafür, soziale Phänomene durchgängig als Effekte eines im Kern bewusst und rational reflektiert sinnhaften Handelns von Individuen zu rekonstruieren. Diese Sichtweise wird – in der Tradition des vertragstheoretischen Denkens und des methodologischen Individualismus – am entschiedensten von Vertretern der Theorie rationaler Handlungswahl vertreten (vgl. z. B. Coleman 1991: 13–27).

      Im Gegensatz zu beiden Gruppen solcher Ansätze ist die Soziologie als empirische Wirklichkeitswissenschaft gut beraten, die Frage, ob und in welchem Maße ein soziales Phänomen auf eigenständige subjektive Sinnbildung zurückgeht oder durch vorgegebene gesellschaftliche Sinnmuster hervorgebracht wird, nicht konzeptuell vorzuentscheiden. Soziologische Theoriebildung sollte den Sozialforscher vielmehr in die Lage versetzen, empirisch von Fall zu Fall überprüfen zu können, zu welchen Anteilen die atomistische oder die holistische Erklärungsrichtung zur Erklärung des interessierenden sozialen Phänomens beiträgt. In der Soziologie sollte es also nicht »Atomismus versus Holismus« (oder umgekehrt) heißen, sondern Atomismus und Holismus.

      Der wahrscheinlich bekannteste Versuch, die atomistische und die holistische Erklärungsrichtung nicht als einander ausschließende Alternativen, sondern als einander ergänzende Betrachtungsweisen zu erfassen, ist das von Anthony Giddens vorgeschlagene Konzept der Dualität von Struktur. Mit diesem Begriff bezeichnet Giddens, »daß gesellschaftliche Strukturen sowohl durch das menschliche Handeln konstituiert werden, als auch zur gleichen Zeit das Medium dieser Konstitution sind« (Giddens 1984: 148). Seine konzeptionelle Ausarbeitung dieses wechselseitigen [112]Bedingungs- und Ermöglichungszusammenhangs von Handlung und Struktur weist eine deutliche Nähe zur praxistheoretischen Argumentation auf: Giddens zufolge existieren soziale Gebilde in Gestalt reproduzierter sozialer Praktiken. Soziale Strukturen besitzen dementsprechend keine eigenständige Existenz jenseits des Handelns der Akteure. Vielmehr gilt, »daß Struktur, als raum-zeitliches Phänomen, nur insofern existiert, als sie sich in solchen Praktiken realisiert und als Erinnerungsspuren, die das Verhalten bewußt handelnder Subjekte orientieren« (Giddens 1992: 69). In der holistischen Erklärungsrichtung wird das individuelle Handeln durch die bereits bestehenden sozialen Praktiken angeleitet. In der atomistischen Erklärungsrichtung ist es das Handeln der Akteure, durch das diese Praktiken hervorgebracht werden. Nun ist Giddens im Einklang mit praxistheoretischem Denken zudem der Auffassung, dass das Handeln der Akteure zumeist im Modus des »praktischen Bewusstseins« erfolgt (vgl. ebd.: 73), d. h. als Handeln auf der Grundlage stillschweigenden Wissens (vgl. ebd.: 36, 431), und dass die Praktiken typischerweise die Gestalt von Routinen und Gewohnheiten haben. Um dem Eindruck entgegenzuwirken, dass seine Konzeption der Dualität von Struktur am Ende doch darauf hinausläuft, dass sich die Struktur hinter dem Rücken der Akteure in deren Handeln durchsetzt, betont Giddens ganz ausdrücklich die Bewusstheit menschlichen Handelns: Auch das Handeln im Modus des praktischen Bewusstseins ist seinem Verständnis nach ein bewusstes Handeln, dessen Gründe der Akteur anzugeben in der Lage wäre, wenn er gefragt würde. Nur ist der Handlungssinn den Beteiligten eben in der Regel stillschweigend klar, sodass kein Erläuterungsbedarf besteht (vgl. ebd.: 55 ff.).

      An diesem Punkt zeigen die Überlegungen von Giddens allerdings eher das Problem und den Lösungsansatz auf, als selbst bereits eine befriedigende Lösung vorzuweisen: Als Lösungsansatz bietet es sich an, mit dem sozialtheoretischen Grundbegriff der Handlung bzw. des Handelns zu operieren. Denn das Handeln, verstanden als ein sinnhaftes Verhalten, kann

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