Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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(und begrifflich gefasst werden) wie auch in der Form des durch vorgegebene Sinnmuster sinnhaft strukturierten Handelns. Im letzten Fall kann die Sinngebung des Handelns dann auch ohne Beteiligung der bewussten Aufmerksamkeit des Akteurs erfolgen. Mit dem Handlungsbegriff liegt also ein sozialtheoretischer Grundbegriff vor, der dem Begriff der Praxis, der Kommunikation und der Interaktion darin überlegen ist, dass auf seiner Grundlage atomistische wie auch holistische Erklärungen sozialer Phänomene angefertigt werden können (vgl. Schulz-Schaeffer 2010). Das Problem besteht darin, das bewusste und das stillschweigende Handeln einerseits begrifflich trennscharf genug zu halten (was Giddens nicht gelingt), um mit den Begriffen die atomistische wie die holistische Formierungsrichtung des Sozialen erfassen zu können. Anderseits gilt es, beide Formen des Handelns in einen einheitlichen theoretischen Bezugsrahmen zu bringen.

      Ein Ansatz einer integrativen Handlungstheorie, der diese Zielsetzung verfolgt, ist das von Hartmut Esser vorgeschlagene Modell der Frame-Selektion (vgl. Esser 2001: 259 ff.). Dieses Modell, so Esser (2003: 360), dient dazu,

      neben den ›rationalen‹ Anreizen und Erwartungen, auch die ›mentalen Modelle‹ der Menschen, ihre Weltbilder, Vorstellungen, Erwartungserwartungen und die kulturellen ›kollektiven Repräsentationen‹ in die soziologischen Erklärungen einzubeziehen und damit den (subjektiven) ›Sinn‹, den die Menschen mit ihrem Tun, nicht immer ›bewusst‹ freilich, verbinden und über den sie die Situationen mehr oder weniger fest ›definieren‹.

      Mit dem Modell der Frame-Selektion greift Esser die in der Sozialpsychologie entwickelten Dual-Process-Modelle auf (vgl. Chaiken/Trope 1999), wobei er sich insbesondere an einem [113]dieser Modelle, dem so genannten MODE-Modell orientiert (vgl. Fazio 1990; Fazio/Towles-Schwen 1999). Die Dual-Process-Modelle resultieren aus experimentell gewonnenen empirischen Befunden der Sozial- und Kognitionspsychologie. Diese Befunde besagen, dass die Situationswahrnehmung und Handlungsorientierung der Versuchspersonen durch zwei komplementäre kognitive Fähigkeiten erzeugt wird: Auf der einen Seite sind sie in der Lage, die sich wiederholenden bzw. stabilen Merkmale ihrer natürlichen und sozialen Umwelt schnell und mühelos wahrzunehmen. Diese Form der Wahrnehmung erfolgt auf der Grundlage kognitiver Repräsentationen, mentaler Modelle, die automatisch und ohne Beteiligung der bewussten Aufmerksamkeit der Akteure aktiviert werden (vgl. Bargh 1999). Sie versorgt die Akteure in der jeweiligen Situation mit einem Wissen darüber, was wann, wo und von wem zu erwarten ist, und sorgt dafür, dass die Wirklichkeit von ihnen als sinnvoll geordnet und vorhersehbar erfahren wird (vgl. Macrae/Bodenhausen 2000: 94). Dieser Form der Wahrnehmung steht auf der anderen Seite die Fähigkeit gegenüber, für Unerwartetes sensibel zu sein, zu erkennen, wenn die automatisch aktivierten Situationsdeutungen und Handlungsmuster nicht passen, um dann auf der Grundlage bewusster Situationswahrnehmung und eigenständiger Sinnbildung zu einer Situationsdeutung und einem Handlungsplan zu gelangen (vgl. Fazio 1990: 89 ff.). Der Kern der Dual-Process-Modelle und ebenso auch der Kern des Modells der Frame-Selektion besteht darin, den Wechsel zwischen diesen beiden Formen der Wahrnehmung – bzw. die Art und Weise, wie sie sich ergänzen, überlagern oder miteinander konkurrieren – konzeptionell zu erfassen. Der Umstand, dass nach wie vor eine Mehrzahl unterschiedlicher Dual-Process-Modelle nebeneinander bestehen, aber auch die Weiterentwicklungen und aktuellen Diskussionen über das Modell der Frame-Selektion (vgl. z. B. Schulz-Schaeffer 2008) zeigen, dass an diesem Punkt noch Diskussionsbedarf besteht.

      Die Bemühungen um eine integrative Handlungstheorie setzen konzeptionell direkt an dem Schalthebel an, dessen Stellung darüber entscheidet, ob für das interessierende soziale Phänomen eine atomistische oder eine holistische Erklärung bevorzugt werden sollte: Wenn die Situationsdeutung und die Bildung der Handlungsorientierung sich als automatischer Prozess vollzieht, in dem der Handelnde stillschweigend auf gesellschaftlich vorgegebene Sinnmuster rekurriert, ist die holistische Erklärungsrichtung vorzuziehen. In diesem Fall gilt es, Soziales durch Soziales zu erklären. Denn das Handeln wird hier viel eher durch ein Wissen darüber erklärt, welche vorgeprägten Sinnmuster der gesellschaftliche Wissensvorrat für welche Situationen bereithält, als durch ein deutendes Verstehen des subjektiven Handlungssinns der Akteure (welches im Übrigen ja auch nichts anderes als eben dies zum Vorschein bringen könnte). Dort, wo dem Handeln eine eigenständige Sinnbildung und bewusste Handlungsplanung zugrunde liegt – sei es, weil der gesellschaftliche Wissensvorrat kein passendes Sinnmuster zur Bewältigung der betreffenden Situation bereitstellt (oder dem Akteur das diesbezügliche Wissen fehlt), sei es, weil ein entsprechendes Sinnmuster subjektiv sinnhaft überformt oder ergänzt wird – kommt es dagegen auf das deutende Verstehen des subjektiven Handlungssinns an. In dem Maße, in dem der Sinn, den die Akteure ihrem Wahrnehmen und Handeln zugrunde legen, von ihnen aus gesellschaftlich vorgeformten Sinnmustern übernommen werden, verlangen die resultierenden sozialen Phänomene nach einer holistischen Erklärung. In dem Maße, in dem der Sinn, den die Akteure ihrem Wahrnehmen und Handeln zugrunde legen, von ihnen bewusst sinnhaft subjektiv generiert wird, können die resultierenden sozialen Phänomene angemessen nur atomistisch erklärt werden. Die beiden Erklärungsrichtungen schließen sich dabei in keiner Weise wechselseitig aus. Dies umso weniger, als im empirischen Normalfall damit zu rechnen ist, dass die aktuelle Sinnbildung menschlicher Akteure sich in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen aus beiden Quellen zugleich speist.

      [114]Literatur

      Aristoteles (1980): Metaphysik. Zweiter Halbband: Bücher VII (Z) – XIV (N). In der Übersetzung von Hermann Bonitz, neu bearbeitet mit Einleitung und Kommentar herausgegeben von Horst Seidl, Hamburg.

      Bargh, J. A. (1999): The cognitive monster: Evidence against the controllability of automatic stereotype effects. In: Chaiken, Shelly/Trope, Yaacov (Hg.): Dual process theories in social psychology. New York [u. a.], 361–382.

      Berger, Peter L./Luckmann, Thomas (1969): Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/M.

      Blumer, Herbert (1973 [1969]): Der methodologische Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. Opladen, 80–146.

      Bourdieu, Pierre (1979): Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft, Frankfurt/M.

      Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt/M.

      Bourdieu, Pierre (1992): Rede und Antwort, Frankfurt/M.

      Chaiken, Shelly/Trope, Yaacov (Hg.) (1999): Dual Process Theories in Social Psychology, New York [u. a.].

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      Durkheim, Émile (1984 [1895]): Die Regeln der soziologischen Methode, hg. und eingeleitet von René König, Frankfurt/M.

      Durkheim, Émile (1988 [1893]): Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, 2. Aufl., Frankfurt/M.

      Esfeld, Michael (2003): Holismus und Atomismus in den Geistes- und Naturwissenschaften. Eine Skizze. In: Bergs, Alexander/Curdts, Soelve I. (Hg.): Holismus und Individualismus in den Wissenschaften. Frankfurt/M., 7–21.

      Esser, Hartmut (1993): Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt/M. [u. a.].

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      Esser, Hartmut (2000): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Bd. 5: Institutionen, Frankfurt/M. [u. a.].

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      Esser, Hartmut (2003): Der Sinn der Modelle. Antwort auf Götz Rohwer. In: Kölner Zeitschrift für

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