Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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festzustellen sind? Ist es ein Konsens, der über Generationen unter Soziologen tradiert und in Curricula und Prüfungsordnungen immer wieder bestätigt wird? In welchem Verhältnis steht die Wissenschaftsgeschichte der Soziologie mit ihren neuen Erkenntnissen zum eingeübten Ensemble des Kanons der Klassiker?

      Der pädagogische Nutzen von Listen mit Klassikernamen für die Lehre zur Einführung in die Soziologie steht außer Frage. Doch vermischt sich dieses einfache Anliegen mit der zweischneidigen Debatte um die Identität der Soziologie. Eigentlich ist Identität nichts Besonderes, jedes Phänomen hat seine Identität. Probleme bereiten diejenigen, die von Identitätsängsten geplagt sind. Wo Selbstbewusstsein fehlt, muss Identität her, und der kindliche Wunsch nach [26]schützenden Gründervätern findet bei den zu Klassikern erhobenen starken Heroen der Soziologie seine Erfüllung.

      Machttechnisch interessant wird es, wenn man sich derartige Listen genauer ansieht. In der pädagogisch durchaus lobenswerten Liste der Website »50 Klassiker der Soziologie« finden sich beispielsweise Robert Michels, aber nicht Georges Sorel; Arnold Gehlen, aber nicht Max Scheler; Marcel Mauss, aber nicht Claude-Lévi Strauss; Pierre Bourdieu, aber nicht Edgar Morin. Für jeden, der hier zum Klassiker promoviert wurde, gibt es eine diskutable Alternative. Die Exklusion hat freilich eine implizite Logik. Die Ausgeschlossenen gehören zu der Sorte von Wissenschaftlern, die nicht nur für die Soziologie Bedeutendes geleistet haben, sondern auch für Fächer jenseits eng gefasster soziologischer Fachgrenzen.

      Wenn man sich von den Machttechniken zur Disziplinierung von Disziplinen verabschiedet und nach sinnvollen Wegen einer Soziologie vor der Soziologie sucht, stellt man rasch fest, dass in der Vergangenheit Autoren über Ordnungen menschlichen Zusammenlebens und den Wandel dieser Ordnungen nachgedacht und geschrieben haben, die sich heutigen Facheinteilungen entziehen. In Europa sind es zwei Formen geistiger Arbeit gewesen, die einen bemerkenswerten Fundus von Kenntnissen und Erkenntnissen über die Sozialität des Menschen geschaffen haben: einmal das Bestreben, das verstreute Wissen Einzelner oder verschiedener Gruppen zu sammeln und zu ordnen, zum anderen das bohrende Nachfragen in Angelegenheiten, die bisher fraglos hingenommen wurden. Für die eine Form steht der Typus des Gelehrten oder Universalgelehrten, für die andere der des Philosophen, wobei sich bei vielen Autoren auch beides mischen kann. Wir unterscheiden drei Wege, mit diesem Fundus umzugehen.

      1. Historische Quellen soziologischen Denkens sind aufzudecken, wenn man sich daran macht, die Theorien und Problemlösungen zu rekonstruieren, die Gelehrte und Philosophen für die Fragen entwickelt haben, auf die alle menschlichen Gesellschaften seit Anbeginn eine Antwort suchen: Menschen mussten sich ernähren, mit dem Wetter zurechtkommen und ihre Wohnungen bewohnbar halten. Sie mussten irgendwie miteinander auskommen und den Nachwuchs so erziehen, dass er in die Gruppe integriert werden konnte. Sie mussten die Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit des Körpers akzeptieren und diesen schließlich bestatten. Sie mussten zur Kenntnis nehmen, dass Männer und Frauen existieren und dass Generationen kommen und gehen. Sie mussten anerkennen, dass es fette und magere Jahre gibt und dass Feuer, Überschwemmung oder Dürre vieles wieder zunichtemachen konnten. Und sie mussten mit übel gesonnenen Menschen rechnen, mit feindlichen Gruppen, gegen die man Krieg führte, oder mit einzelnen, die in der Gruppe existierten und sich nicht fügen wollten.

      Was z. B. bei Aristoteles über soziale Klassen, bei Augustinus über den gerechten Krieg, bei Thomas von Aquin über die Arbeitsteilung, bei Machiavelli über das Absterben veralteter Institutionen, bei Montaigne über das Streben nach einem gesellschaftlichen Gleichgewicht, bei Hobbes über Gewalt, Macht und Herrschaft, bei Hegel über Liebe, Ehe und Familie zu lesen ist, hat nicht nur soziologische Relevanz. Wer sich damit auseinandersetzt, kann zudem Grundfiguren des Denkens über Gesellschaft entdecken, die in der Folge wieder und wieder überschrieben wurden. Kurz gesagt: Man kann zu fast allen Fragen, die sich auf das Zusammenleben von Menschen beziehen, bei Gelehrten und Philosophen früherer Jahrhunderte kluge Einsichten und interessante Argumentationen finden. Was den gedanklichen Zugriff angeht, sind sie bisweilen sogar überzeugender als heutige soziologische Ansätze.

      2. Ein anderer Weg, historische Quellen soziologischen Denkens aufzusuchen, besteht darin, die heute verwendeten Grundbegriffe auf ihre geschichtliche Befrachtung hin zu befragen. Auf diese Weise lässt sich prüfen, ob der Begriff noch das trifft, was er treffen soll. Alle Sprache registriert und verwandelt Sachverhalte, sie ist rezeptiv und produktiv. Von der amititia zur Freundschaft, [27]von der communitas zur Gemeinschaft, von der societas zur Gesellschaft, von der Polis zum Staat verändert sich einiges. Es kann geschehen, dass Wort und Sache in einem bestimmten Zeitraum deckungsgleich bleiben. Es kann aber auch geschehen, dass das Wort gleich bleibt, die Sache sich aber ändert, oder umgekehrt: Das Wort ändert sich, und die Sache bleibt gleich. Schließlich können Sache und Wort so auseinanderdriften, dass die alten Zuordnungen unverständlich werden (Koselleck 2006). Die Alternative zu dieser Art einer diachronen Begriffsgeschichte besteht in einer ideengeschichtlichen Forschung, die bei der Nutzung von historischen Quellen soziologischen Denkens mehr auf den historischen Kontext achtet als auf den einzelnen Text oder eine einzelne Aussage. Denn die Klassiker danach zu befragen, was sie zur Idee der Gesellschaft, der sozialen Ordnung, der Funktion der Familie usw. gesagt haben, kann zu dem Mythos führen, dass eine kohärente Lehre vorliegt, wo es sich doch nur um zusammengestückelte Aussagen handelt, die im konkreten Kontext eine ganz andere Funktion hatten (Skinner 2010).

      3. Wenn es um die historischen Quellen soziologischen Denkens geht, kann man drittens auch den Blick auf historische Paradigmen der redundanten Denkformen und Sprachspiele lenken, die in allen Bereichen des Wissens in einem Zeitraum von mittlerer Dauer ihre Anwendung finden. Hier ließe sich von politischen Sprachen im Sinne von John G. A. Pocock sprechen, von den verbreiteten Arten, etwas zu problematisieren oder nicht, von den Konventionen der Rhetorik, dem Stil der Plausibilisierung und dem Sortiment von Vokabeln, das eingesetzt wird (Pocock 2010).

      Eine solche Analyse lässt sich auch mit Blick auf eine historische Diskursanalyse erweitern, wie wir sie Michel Foucault für die Grammatik, die Klassifikation der Lebewesen und für die Analyse der Reichtümer verdanken, bevor sich das Wissen in Disziplinen der empirischen Felder »Arbeit«, »Leben« und »Sprache« ausdifferenziert hat (Foucault 1974). Auf dieser Ebene von Denkrahmen, bei Foucault episteme genannt, geht es nicht mehr um Autoren, sondern um mögliche Subjektpositionen und Gegenstandsfelder, die die Ordnung des Diskurses zulässt oder nicht.

      Alles in allem: Soziologie vor der Soziologie bereitet einige Mühe und bedarf besonderer Anstrengungen, weil Soziologie ein spätes Fach ist, gerade mal gut 100 Jahre alt. Hinzu kommt, dass Soziologen nicht so vorgehen können wie etwa Physiker oder Chemiker, die in den Schriften von Gelehrten und Philosophen früherer Zeit exakt zwischen wahren Einsichten und horrendem Unsinn unterscheiden können, weil für sie der heutige Stand des Wissens maßgeblich ist. In der Soziologie verbietet sich dieses einfache Verfahren. Denn wenn es z. B. um die Validität von Aussagen über Blei geht, so nehmen wir an, dass sich dieser Reinstoff seit langer Zeit nicht verändert hat und das Wachstum des richtigen Wissens und die Bestimmung der Irrtümer auf dem Weg des Experiments gesichert werden kann. Bei Menschen, in Gesellschaft lebend, ändern sich die Dinge. So verfährt denn auch die soziologische Erforschung der Wissenschaftsgeschichte der Naturforschung nach dem Symmetrieprinzip, das lautet: Wahrheit und Irrtum der Wissenschaft einer Zeit sollen mit denselben Begriffen, Ursachen, Faktoren – d. h. eben symmetrisch – erklärt werden. Newtons Irrtümer und seine Durchbrüche sollten gerechterweise mit dem gleichen Maß gemessen werden, weil man sonst den offenen Charakter von Wissenschaft, bei dem ja gerade nicht von vornherein feststeht, was spätere Generationen gebrauchen und anerkennen können und was nicht, grundsätzlich verfehlt (Bloor 1991).

      Sich mit den historischen Quellen soziologischen Denkens zu befassen, ist gerade in Deutschland auch aus politischen Gründen von Bedeutung. Denn im Selbstbewusstsein hiesiger Bürger fehlt eine verlässliche politische Konzeption mythischen Charakters, die helfen könnte, im Fluss der Ereignisse, der Krisen und Glücksmomente wieder zur Ruhe zu kommen. Helmuth Plessner hat daran erinnert, dass das Parlament in England, die bürgerliche Emanzipation in Frankreich, die erste bürgerliche Republik

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