Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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Selbstregulation moderner Gesellschaft: Neben den staatszentrierten Perspektiven konnte man sich in der Krise des 19. Jahrhunderts auch auf solche Traditionen beziehen, die die Stabilität sozialer Ordnung als eine begriffen, die sich eigentätig aus dem sozialen Leben von selbst ergeben würde. So hatte Michel de Montaigne schon früh die Erfahrung gemacht, »daß die Gesellschaft letztlich stets verschweißt bleibt und zusammenhält, koste es, was es wolle. In welche Lage man die Menschen auch versetzt – auf der Stelle ordnen sie sich unter Schieben und Drängen zu vierlei Schichten übereinander: so wie lose Dinge, die man aufs Geratewohl in einen Sack wirft, von selber sich verbinden und auf vielfältige Weise zusammenfügen – und besser oft, als Kunstfertigkeit sie zu ordnen vermöchte.« (Montaigne 21998: 480 f.)

      Gegen die Idee, dass die Stabilität sozialer Ordnung nur durch einen starken Staat zu garantieren sei, hat Charles-Louis de Secondat, der unter dem Namen Montesquieu berühmt wurde, auf dem Wege eines Gesellschaftsvergleichs aufgezeigt, dass die Vielfalt sozialer Ordnungen immer das Ergebnis mehrerer Faktoren ist. Es spielt eine Rolle, wie Wetter und Boden beschaffen sind, denn davon hängt ab, wie die Ernährungsgrundlage, Eigentumsverhältnisse und die Bedürfnisse der Menschen aussehen. Entscheidend sind die konkreten Umstände (circonstances), mit denen der Mensch als flexibles Wesen (être flexible) umzugehen gelernt hat (Montesquieu 1900: II).

      Für die Vorstellung einer Selbstregulation sozialer Ordnung bildete die Orientierung an materiellen Interessen einen idealen Ausgangspunkt. Für Adam Smith ist es der Tausch, der das Interesse des einen mit dem des anderen verbindet. Der »Hang zu tauschen, zu verhandeln und eine Sache gegen eine andere auszuwechseln« (»to truck, barter and exchange one thing for another«) gehört für Smith zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen: »Kein Mensch sah jemals einen Hund mit einem anderen einen gütlichen und wohlbedachten Austausch eines [33]Knochen gegen einen andern machen.« Wenn der Hund etwas haben möchte, so tauscht er nicht, sondern er »sucht auf tausenderlei Weise sich seinem bei Tische sitzenden Herrn bemerklich zu machen, wenn er etwas zu fressen haben will. Ein Mensch bedient sich bisweilen derselben Künste bei seinen Mitmenschen, und wenn er kein anderes Mittel kennt, sie zu bewegen, daß sie nach seinem Wunsche handeln, so sucht er durch jede mögliche knechtische und schweifwedelnde Aufmerksamkeit ihre Willfährigkeit zu gewinnen.« Aber in »einer zivilisierten Gesellschaft befindet er sich zu jeder Zeit in dem Falle, die Mitwirkung und den Beistand einer großen Menge von Menschen zu brauchen, während sein ganzes Leben kaum hinreicht, die Freundschaft von ein paar Personen zu gewinnen.« (Smith 1846: 24f)

      Die Angewiesenheit auf die Hilfe vieler Mitmenschen ergibt sich aus der Arbeitsteilung, die sich in zivilisierten Gesellschaften herausgebildet hat. Für Adam Smith geht die Spezialisierung der Berufe auf den Hang zum Tauschen zurück. Der Einzelne bindet sich mit seiner Spezialität an den anderen, d. h. er macht sich für andere nützlich. Wenn ein jeder die Eigenliebe des anderen zu seinen Gunsten zu interessieren vermag und dem anderen zeigen kann, dass er seinen eigenen Nutzen davon haben kann, wenn er für ihn tut, was er von ihm haben will, dann entsteht ein Zusammenhang, der durch die Eigenliebe den Altruismus fördert. »Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und sprechen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.« (Smith 1846: 26)

4.Eine bessere Gesellschaft

      Im 19. Jahrhundert wird Gesellschaft als eine fragliche Angelegenheit entdeckt. Gesellschaftslehren, die Fragen der Herrschaft, der Polizei und der Selbstregulation ins Zentrum setzen, orientieren sich an der Idee einer stabilen Sozialordnung. Was aber, wenn die Idee Platz greift, dass die Gesellschaft von Grund auf neu organisiert werden muss oder dass es eine geschichtliche Progression hin zu einer neuen Gesellschaft gibt, auf die vertraut werden kann oder die zu beschleunigen ist?

      Der Traum von einer besseren Gesellschaft findet sich schon in den Idealgesellschaften und Idealstaaten, die Autoren seit der Antike entworfen haben. Das beginnt in Griechenland bei Plato und durchzieht fortan das abendländische Denken. Thomas Morus verdanken wir den Terminus Utopie. Die Autoren von Utopien verfahren konstruktivistisch. Entworfen werden andere Lebensformen, die das überbieten, was die bestehende Gesellschaftsform bietet. Der utopische Konstruktivist spielt das, was ihm wichtig ist, gedanklich durch: Wie wird die Ernährung aussehen, wie der Häuserbau, wie die Zeitregelung, wie die Erziehung, wie die Müllabfuhr und so weiter? Alles muss passen, so dass sich jeder vorstellen kann, dass es besser sei, in dieser Art zu leben, als im jeweiligen Jetzt-Zustand.

      Die bessere Gesellschaft muss aber nicht auf eine utopische Insel verlegt werden, sie kann auch als eine besondere Phase im Leben von Völkern geschichtlich situiert werden, als ein goldenes Zeitalter, als Blüte einer Kultur oder als zu erwartender Höhepunkt. So hat Ibn Khaldūn (1332–1406) aus der Erfahrung der Konfrontation von Gesellschaften unterschiedlichen Typs im südlichen Mittelmeer ein zyklisches Geschichtsbild gezeichnet. Nomadische Lebensweisen kennen eine starke Solidarität; mit dem Eintritt in differenziertere urbane Lebensweisen wird der Zusammenhalt jedoch schwächer. Es kommt zu Zerfallserscheinungen, die Gesellschaft ist Eroberungen durch einen von außen kommenden Nomadenstamm hilflos ausgeliefert, den [34]freilich über kurz oder lang dasselbe Schicksal ereilen wird (Khaldūn 1992). Je nach der Selbstpositionierung in einem solchen Ablaufschema kann ein Gesellschaftszustand als besser oder schlechter erscheinen.

      Das zyklische Geschichtsbild von Giambattista Vico ist wie viele Denkweisen dieser Art am menschlichen Lebenslauf im Sinne der natürlichen Entwicklung des menschlichen Geistes orientiert und zielt auf eine wiederkehrende Struktur der Gesellschaftsgeschichte von Aufstieg, Fortschritt, Zustand, Verfall und Ende, um dann von Neuem seinen Lauf zu nehmen. Vicos Modell ist in der Hauptsache der Geschichte Roms abgelesen. Nach dessen Untergang kehrt die Stufe heroischer Barbarei im Mittelalter wieder, nicht als identische Wiederholung, sondern bereichert durch die vorausgegangene Entwicklung (Croce 1927). Während Vico seine Sympathie für die heroische Zeit der Kindheit der Kulturen voller Fantasie und Poesie nicht verbarg, projiziert der Marquis de Condorcet den Idealzustand der Gesellschaft in die Zukunft, in der das Menschengeschlecht, neun Epochen durchlaufend, auf einen Zustand der Vollkommenheit zueilt. Die Perfektibilität des Menschen verläuft bei ihm in einer linearen Zeit, die bessere Gesellschaft ist die jeweils nächste (Condorcet 2010).

      Mit den Umbrüchen der Französischen Revolution wird die Sehnsucht nach einer ganz neuen Gesellschaft enorm verstärkt. Frankreich entwickelt sich zur Brutstätte von Gesellschaftslehren, deren Leuchtkraft bis heute ausstrahlt. Bei Saint-Simon und seinen Jüngern ist früh schon das Ensemble der postrevolutionären Konstellation präsent, das für das Denken der Gesellschaft im 19. Jahrhundert bestimmend geworden ist: die Idee der Industriegesellschaft, die Arbeiterfrage, der Feminismus und das Ziel einer Ersetzung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch eine Verwaltung von Sachen, deren oberste Leitung der Wissenschaft zukommt. Einer der Sekretäre Saint-Simons, Auguste Comte (1798–1857), hat dieser neuen Wissenschaft ihren Namen gegeben: »Soziologie«. Die Soziologie ist die Königin des neuen wissenschaftlichen Zeitalters, in dem die Menschen in der Lage sind, ihr Zusammenleben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu organisieren.

      Die Ideen für eine bessere Gesellschaft gehen dann freilich in verschiedene Richtungen. Comte erfindet die Soziologie als Krönung der positivistischen Wissenschaft, die wie eine Kirche organisiert wird, und legt sich vor seinem Tod 1857 den Titel Le Fondateur de la Religion Universelle. Grand-Prètre de l’Humanité zu. Andere Schüler Saint-Simons wie Barthélemy Prosper Enfantin sahen die Befreiung der Frau und die Abschaffung der Ehe als Königinnenweg zu einer besseren Gesellschaft. Schließlich verstärken die Saint-Simonisten den anschwellenden Strom von Gesellschaftslehren, die die soziale Frage, insbesondere das Elend der Arbeiter fokussieren und die bessere Gesellschaft in einem Sozialismus, Kommunismus oder Anarchismus realisieren wollen.

      Verwissenschaftlichung und Fortschritt der Gesellschaft: Die von Comte gestiftete Menschheitsreligion ist der Schluss der Entwicklung des menschlichen Geistes, der in allen

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