Handbuch der Soziologie. Группа авторов

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Freiheit. Hegel hatte formuliert, dass Geschichte Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist. Marx verbindet dies mit dem Terminus Emanzipation. Sie geschieht freilich nicht gleichsam geschichtsautomatisch, sondern muss von den Unterdrückten erkämpft werden. Dazu kommt zweitens eine Theorie des Klassenkampfs, die Marx der französischen Geschichtsschreibung entnommen hat. Die Historiker Augustin Thierry (ebenfalls einer der Sekretäre von Saint-Simon) und François Guizot sahen im Kampf zwischen Adel und Bürgertum den entscheidenden Motor für den Fortschritt der Gesellschaft. Ihnen galt der Klassenkampf als ein fruchtbares Entwicklungsprinzip der europäischen Zivilisation. Schließlich formulierte Marx drittens eine Kritik der Volkwirtschaftslehren, der Nationalökonomie, der political economy. Der Kernpunkt der Kritik lautete: »Die Arbeit kömmt nur unter der Gestalt der Erwerbstätigkeit in der Nationalökonomie vor.« Die politische Ökonomie muss kritisiert werden, weil sie eine falsche Auffassung von Arbeit hat und dazu muss man sich »über das Niveau der Nationalökonomie erheben« (Marx 1973:477).

      Es sind dies drei Themen, die in der damaligen Zeit und lange danach, vielleicht sogar bis heute, voneinander getrennt diskutiert wurden: Was ist Freiheit? Warum Gewalt und Krieg in der Geschichte? Woher kommt Reichtum und Armut der Gesellschaften? Marx’ Intuition war es, diese drei Themen als drei Momente eines Zusammenhangs zusammenzuhalten und sie in den breiten Strom dessen, was man seit 1789 in Europa »Revolution« nannte, einzuspeisen.

      Die Verhältnisse zwischen Soziologie und Marxismus sind spannungsreich. Denn Marx war ebenso ein Anti-Soziologe, wie sich die Soziologie als Anti-Marxismus verstanden hat. Verständlich wird diese Spannungslage, wenn man weiß, dass Marx zwei deutsche Anti-Affekte in sein Denken eingelassen hat, die sich gegen die geistigen Traditionen sowohl der Angelsachsen und wie auch der Franzosen richteten, von denen er aber gleichzeitig ungeheuer profitiert hat. Marx hasste einerseits den Bourgeois, jene Gestalt, der er einen französischen Namen gab, hinter der sich jedoch der englische Kapitalist verbarg, der self-made man, berechnend, hartherzig, erfolgreich. Andererseits hasste er die Halbherzigkeit der »nur« politischen Revolution, die die Franzosen 1789 durchgeführt hatten. Marx träumte von einem Deutschland, das besser als alle anderen mit der Zukunft fertig werden würde, darum geißelte er die eklatante Rückständigkeit seiner Landsleute und goss Hohn und Spott über ihre Faulheit und Feigheit, ihre dumme Gutgläubigkeit, ihre gemütliche Provinzialität, ihre unausstehliche Prahlsucht und ihre geistige Verstiegenheit. In Deutschland gab es daher immer auch genügend Gründe für einen Antimarxismus.

      Die politischen Ökonomen in der Tradition von Adam Smith hielten daran fest, dass es moralisch besser sei, wenn die Menschen die Dinge, die sie zum Leben brauchen, miteinander [40]austauschen, indem sie nicht für ihre Autarkie, sondern für andere tätig werden und ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen. Denn die Lust zu kaufen und zu verkaufen, verbände die Menschen viel stetiger und sicherer miteinander als Affekte anderer Art. Für den ordnungsliebenden Marx war es ein unerträglicher Gedanke, dass die so völlig verschiedenen Substanzen der Welt, wie Tulpen, Tapeten, Tonkrüge und Tauben, und Eigenschaften der Individuen, wie Muskelkraft, Sangeskunst, Liebesfähigkeit und Zerstörungslust beliebig, chaotisch füreinander zur Ware werden.

      Zum Antikapitalismus hinzu kommt bei Marx die Kritik an der »Nur«-Politik französischer Art, die auf der Spaltung zwischen Bürger und Mensch (Öffentlichkeit und Privatheit) basierte. Dass so lebenswichtige Themen wie Glück, Besitz, Liebe und Religion dem politischen Zugriff grundsätzlich entzogen sein sollten, d. h. als Privatsache galten, war für Marx besonders dort unerträglich, wo von der Privatsache, etwa dem Privatbesitz von Produktionsmitteln, Wohl und Wehe ganzer Landstriche abhing. So sollte Marx zufolge der Stolz der revolutionären Franzosen, die demokratische Republik, in der geschichtlichen Entwicklung durch einen Verein freier Menschen überboten werden, der ganz vaterlandslos und mit absterbenden Staaten die Welt umspannen sollte, wie ein einziges Friedensreich.

      Mit seiner gegen die politische Ökonomie der Angelsachsen gerichteten Kapitalismuskritik und seiner gegen die politische Philosophie der Franzosen gerichteten Staatskritik ist Marx in Deutschland ein solch geistiger Riese gewesen, dass die sich bildende Soziologie um 1900 alle Hände voll zu tun hatte, etwas dagegenzusetzen.

5.Literarische Selbstdarstellung der Gesellschaft

      Besonders in den wachsenden Städten wird die moderne Gesellschaft als ein unheimliches Phänomen entdeckt. Durch die Alphabetisierung der städtischen Bevölkerung entsteht zugleich ein größeres Lesepublikum und der Bedarf an Lektüren wächst, aus denen zu erfahren ist, in welcher Gesellschaft man lebt (Lepenies 1985). Eindrucksvoller als die Traktate der Gesellschaftslehren oder die statistischen Abhandlungen sind die lebendigen Darstellungen gesellschaftlichen Lebens, die in Erzählungen und Romanen auf den Markt kommen. Stilbildend für diese Literatur sind die Werke von Honoré de Balzac (1799–1850). Der literarische Durchbruch gelingt ihm in der sogenannten Julimonarchie (1830–1848), einer Periode, in der Frankreich einen rasanten Prozess wirtschaftlichen Wachstums erfährt. In seinen Romanen und Novellen schildert Balzac, wie sich Menschen und ihre Beziehungen in der entfesselten Marktgesellschaft verändern. Arnold Hauser hat bemerkt, »daß Balzac in seinen Werken viel mehr das Bild der nächsten Generation zeichnet, als das seiner eigenen, und daß seine ›nouveaux riches‹ und Parvenus, seine Spekulanten und Glücksritter, seine Künstler und Kokotten für das zweite Kaiserreich charakteristischer sind als für die Julimonarchie. Hier scheint tatsächlich das Leben die Kunst nachgeahmt zu haben« (Hauser 1973: 811). Im Vorwort zur Comédie humaine beruft sich Balzac auf Buffons Histoire naturelle und zeigt seine Absicht an, die französische Gesellschaft so systematisch zu analysieren, wie es Buffon mit dem Tierreich gemacht hatte. Für den ersten Teil der Comédie humaine sieht er den Titel Études sociales vor.

      Im 19. Jahrhundert blüht die sozialkritische Schriftstellerei eines Charles Dickens, der in Oliver Twist (1837) seinen kleinen Helden das ganze Elend von Armut, Kinderarbeit und Kriminalität erleben lässt. Außerdem beschreibt Edmond de Goncourt in Germinie Lacerteux (1865) das wechselvolle Schicksal des Dienstmädchens Germinie. Gustav Freytag erzählt in dem Bestseller Soll und Haben (1855) von Adligen, die in Verkennung der neuen Welt durch Verschwendung ins [41]Elend geraten, von geldgierigen Juden und braven deutschen Bürgern – ein Roman, der geeignet war, antisemitische Stereotype zu verstärken. In Adalbert Stifters Der Nachsommer (1857) werden die Beschäftigung mit alter Kunst und die Naturbetrachtung zu Gegenwelten, in denen sich ein Lebensstil jenseits blanker kapitalistischer Gesinnung ein Stück weit erhalten kann. Die Welt der Reichen in England und den USA, die Henry James in Bildnis einer Dame (1881) schildert, ist nur oberflächlich beneidenswert. Hinter der Fassade herrschen Neid, Intrige und ein Leiden an den moralischen Verhältnissen. Das Leiden der Unterschichten hat Émile Zola in Germinal (1885) am Beispiel der Lage der Bergarbeiter, der Bergwerksunfälle, der Not in Streiks und der politischen Auseinandersetzungen dargestellt. Die Zerrissenheit der sozialen Beziehungen kommt nicht zuletzt in den Romanen über Ehe und Ehebruch verbunden mit wirtschaftlichen und moralischen Krisen zum Ausdruck, so beispielsweise in Gustave Flauberts im Untertitel Ein Sittenbild aus der Provinz genannten Roman Madame Bovary (1857), in Lew Tolstois Anna Karenina (1877/78) oder Theodor Fontanes Effi Briest oder L’Adultera.

      Es waren Schriftsteller, die die wachsenden Großstädte des 19. Jahrhundert in Europa mit dem Dschungel verglichen – ein Dschungel, der zu ganz außerordentlichen Beobachtungen und Reflexionen Anlass bot. In der Stadt gibt es eine ganz eigenartige Mischung von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Geheimnisvollem und Oberflächlichem. Zu den populären Literaturen, die über die große Stadt geschrieben wurden, gehören die Detektivgeschichte und der Kriminalroman (Kracauer 1971). Der Detektiv ist die Verkörperung der umherwandelnden Ratio in der Stadt, der dank seiner Beobachtungsgabe und seiner intellektuellen Kräfte in der Lage ist, Verbrechen aufzuklären. Er informiert über Sensationen. Dazu muss der Detektiv Strategien der Orientierung ausbilden, die den Städten gerecht werden, diesen Haufen von Artefakten, diesen Ansammlungen konkurrierender Weltbilder und der Massierung von Fremden. Die Orientierungen des Detektivs sind andere als die desjenigen, der eine stabile Sozialordnung anstrebt, und auch desjenigen,

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