Tatort Bodensee. Eva-Maria Bast
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»Und der Herr Dr. Bär hat auch schon angerufen! Auch ihm habe ich natürlich nichts Besseres mitteilen können.« Rastlos wanderten die Augen des Chefarztes zwischen Horst, dem Fenster und der mittlerweile sperrangelweit offen stehenden Tür der Druckkammer hin und her. Dort hatte er sofort nach seiner Ankunft mit dem Notarztwagen vorsichtshalber die letzten 24 Stunden verbringen müssen, dort hatte man seinen Körper wieder auf die Druckverhältnisse in der Tiefe konditioniert und den Druck dann ganz allmählich vermindert. Er hatte gewaltiges Glück gehabt – das hatten ihm die behandelnden Ärzte mehr als nur einmal kopfschüttelnd versichert. Aus dieser Tiefe nach einer Grundzeit von knapp zehn Minuten so blitzschnell an die Oberfläche durchzuschießen: Das hätte leicht mit einer schweren bleibenden inneren Verletzung, Querschnittslähmung oder gar mit dem Exitus enden können!
Exitus! Das Wort schoss blitzartig wie eine Harpune durch sein Gehirn, um wenig später in einem grellen Blitz in seinem Kopf zu explodieren. Ihm wurde schwindlig. Gerade noch rechtzeitig konnte er sich mit den Händen an der Lehne des vor ihm stehenden Stuhles festklammern. Die Bilder würden ihm zeitlebens nicht mehr aus dem Kopf gehen. Während man ihm Infusionen angelegt und ihn für die Zeit in der Druckkammer vorbereitet hatte, konnte Horst neben sich die Liege erkennen, auf der ein nach wie vor lebloser Körper, gespickt mit Infusionen, Pflastern und Reanimationsgeräten, von hektisch sich bewegenden Ärzten und Schwestern umringt war: Thomas! Keiner hatte ihm in den letzten Stunden die Frage beantwortet, was denn mit seinem Freund geschehen war, ob er noch lebte, weshalb man nicht erst einmal ihn in der Druckkammer behandelt hatte, ob es denn tatsächlich so schlimm um ihn stünde, wie es den furchtbaren Anschein hatte.
Und jetzt dies – wie ein Blitz aus heiterem Himmel die endgültige Diagnose: Es war aus, vorbei. Thomas war gestorben, sie hatten ihm nicht mehr helfen können! Thomas war tot!
Schauernd wandte er sich ab und fuhr sich mit der Hand über die Stirn, um sich auf die Worte des Professors zu konzentrieren. Was hatte der da gerade von irgendeinem ihm unbekannten Anrufer gesprochen? »Wie, der Herr Bär? Welcher Herr Bär?« Irritiert stierte er den Professor an.
»Na, der Landrat!« Genauso indigniert glotzte der ganz offensichtlich schwer gestresste Mediziner nun zurück. Sicher, auch für einen wie ihn, der ja jeden Tag schon rein berufsmäßig irgendwie im Clinch mit dem Tod zu liegen hatte, war so eine Geschichte alles andere als leicht zu verdauen. Wozu war man schließlich – zu Recht – stolz auf die Druckkammer im Überlinger Krankenhaus? Um wie viele Lichtjahre würde es nun die Statistik wieder zurückwerfen, wenn man einen Exitus während des laufenden Betriebs zu verzeichnen hatte. Während eines Betriebs, der doch schon so viele Leben gerettet hatte – wie auch immer und zu welchem Preis auch immer (was sowohl die Frage nach der künftigen Lebensqualität des so geretteten, eventuell im Rollstuhl sitzenden Notfallpatienten genauso aufwarf wie die hartnäckige, ständig wiederkehrende Frage der Krankenkassen nach Kosten und Effizienz einer solchen Einrichtung). Klar, dass die verantwortlichen und auf ihre Druckkammer wie erwähnt stolzen Ärzte alles andere als erbaut darüber waren, dass nach langer Zeit mal wieder einer ihrer Patienten »über den Jordan gegangen war«!
»Welcher Landrat?« Soweit Horst sich in der Kommunalpolitik des Landkreises Friedrichshafen auskannte, und zu diesem gehörte schließlich auch die Stadt Überlingen, hörte der Landrat des Bodenseekreises auf einen ganz anderen Namen.
Mit einer unwirschen Bewegung des rechten Armes schien der Chefarzt Horsts Frage regelrecht vom Tisch zu wischen. »Na, der Dr. Bär eben – der Landrat von Konstanz! Wer denn auch sonst?!« Missmutig fixierte er sein Gegenüber durch die dicke Hornbrille hindurch.
»Aber der ist doch dafür gar nicht zuständig, woher weiß denn der schon …«
»Was heißt hier: nicht zuständig? Schließlich ist der Unfall – rein theoretisch – in der Schweiz passiert und ein Beamter aus dem Landkreis Konstanz war das Opfer! Wir sind doch hier nicht in einer Bananenrepublik, sondern in einem modernen telekommunikativen Rechtsstaat, hören Sie mal! Da weiß man so was eben ganz einfach! Da hat man das schlichtweg zu wissen!« Zornesfalten zerfurchten nun die Stirn des Mediziners. »Und glauben Sie bloß nicht, dass diese Geschichte so mir-nichts-dir-nichts im Sande verlaufen wird! Das ist eine internationale Affäre, die noch nicht einmal innerhalb der Europäischen Gemeinschaft geregelt werden kann. Denn der Unfall ist schließlich auf Schweizer Boden passiert, und das macht die Sache besonders delikat!«
Horst konnte – trotz seines momentanen Gemütszustandes – einfach nicht anders: »Na ja, Schweizer Boden würde ich nicht direkt sagen, eher schon Schweizer Wasser …«
Der Professor fixierte ihn mit einem bösen Blick: »Also ich an Ihrer Stelle würde mir mehr Gedanken über eine ordentliche Erklärung der ganzen Chose machen, als mein bisschen Gehirnschmalz auf solch eine saudumme Replik zu verwenden! Jetzt sagen Sie doch endlich mal: Was ist da unten denn eigentlich passiert?«
»Wenn ich das nur wüsste!« Horst war dem Wahnsinn nahe; es war ein regelrechter Albtraum, dem er sich seit Stunden wehrlos ausgesetzt fühlte. Und wenn er ehrlich war, wusste er nicht mehr aus noch ein. »Ich kann Ihnen nur so viel sagen, dass wir zusammen ordnungsgemäß abgetaucht sind, alles war vorher durchgecheckt, alle Systeme waren in Ordnung. Wir haben nichts übertrieben, haben uns am Grund völlig kontrolliert und normal verhalten, Thomas war sowieso ein absolut umsichtiger und erfahrener Taucher …«
Der Professor schnaubte wütend: »Erfahrener Taucher! Wenn ich das schon höre … Wie viele ›erfahrene Taucher‹ vom Teufelstisch habe ich schon hinterher auseinandernehmen müssen? Und jedes Mal dasselbe: Selbstüberschätzung, Panik, Exitus …!«
Jetzt stieg auch in Horst allmählich die Galle hoch! Nein, derartige Legenden würde er seinem toten Freund nicht anhängen lassen! »Reden Sie keinen Blödsinn, ja! Sie waren schließlich nicht dabei! Also noch mal: Da war nichts und da gab es auch nicht den Hauch eines Fehlverhaltens! Mir ist die ganze Geschichte mehr als schleierhaft!«
Horst wurde schwindlig, wenn er auch nur ansatzweise an die zurückliegenden fünf Horrorstunden dachte: Als er panikartig zurück zum Ankerseil geschwommen war, hatte er schemenartig zuckende Bewegungen im Wasser wahrgenommen. Das musste Thomas sein! Doch durch das aufgrund der hektischen Flossenschläge heftig durcheinandergewirbelte Sediment war eine klare Sicht selbst auf gerade mal drei Meter Entfernung unmöglich geworden. Thomas! Was war mit ihm geschehen?! Wieso bewegte er sich derart merkwürdig und wieso baumelte da unter ihm … Nein! Was er da sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren! Weshalb um alles in der Welt hatte Thomas denn sein Mundstück herausgenommen und es offenbar auch nicht einmal in der Hand behalten?
Horst hatte keine Chance, seine Gedanken unter Kontrolle zu bringen, denn im selben Moment schoss Thomas, wie von einer Rakete getrieben, in Richtung Oberfläche! Das durfte doch alles einfach nicht wahr sein! Horst fühlte sein Herz unter dem dicken Neoprenanzug heftig pochen. War das etwa die erste Stufe des Tiefenrausches? Verfolgten ihn üble Halluzinationen? War mit Thomas tatsächlich irgendetwas Schlimmes geschehen oder befand er sich selbst mittlerweile in Lebensgefahr, weil seine Sinne ihm Dinge vorspiegelten, die weitab von der Realität waren, ja sein mussten?! Hatte in Wirklichkeit also ihn der Tiefenrausch in seine tödliche Umklammerung genommen?
Unter Nichtbeachtung sämtlicher Dekotabellen und Sicherheitsmargen folgte Horst seinem Tauchpartner so schnell wie irgend möglich nach oben. An der Wasseroberfläche angekommen glaubte er, seinen Augen nicht trauen zu können. Tatsächlich: Hier trieb Thomas, mit dem Bauch nach oben, das Mundstück ausgespuckt (ganz offensichtlich war ihm unter Wasser schlecht geworden und er hatte sich übergeben müssen). Ein dünnes