Das Netz der Freunde. Hans-Peter Dr. Vogt
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Leon nickt. Das hatte er seinen Enkelkindern (die jetzt seine Kinder sind) immer eingeschärft. Solche Dinge muss man notfalls verschenken. Materielle Dinge sind nicht wichtig. Freundschaften sind wichtig. Dimmy würde die Freundschaft von Louis behalten, trotz der 2500 Dollar. Neu hatte es 6 ½ gekostet. Louis war rattenscharf auf das Rad gewesen, und einige andere auch. Das Rad gibt es aber nur einmal. Es hat einen handgemachten verstärkten Freeriderahmen mit Oversize Rohren, Spezialfelgen, Ballonreifen, Nadelkugellager, eine Sonderlackierung und Labels, die heute nicht mehr zu kaufen sind. Das Wettkampfrad ist in den Augen der Kids der Oberkracher, egal ob in der Pipe oder im Gelände. Louis hätte leicht das Doppelte bezahlt, wenn Dimmy das verlangt hätte, und er rechnete es Dimmy hoch an, dass er das nicht ausgenutzt hatte. Dimmy ist ein echter Freund.
Dann beginnen Leon, Irina und Dimmy mit den Übungen, die Irina schon kennt. Für Dimmy ist das bedeutend schwieriger, aber er bekommt das hin. Schließlich kann er einige der kleineren Gerätschaften mit in den Container nehmen. Dann ist plötzlich fast alles weg, und nur das ist übrig, was sie unbedingt in Berlin brauchen, und das, was sie mit in den Flieger nehmen werden.
Auch diesmal nimmt Leon die Kinder erst ohne Gepäckstücke mit in die Wohnung in Berlin. Sie liegt im Stadtteil Moabit, ist ziemlich geräumig, und sie ist voll eingerichtet. Sogar Küchenmesser, Kochtöpfe und solche Altagsgegenstände sind da.
Es gibt zwei Kinderzimmer, ein Schlafzimmer für Leon und Vera, und es gibt eine große Küche, mit Schiebetüren zum großen Wohnbereich. Eine Altbauwohnung, mit hohen Decken und Stuck. So etwas gibt es in den USA nicht. Irina und Dimmy staunen. Es gibt abgeschliffene Dielenböden, die neu lackiert sind. Nicht dieses neue Fertigparkett, das es in den USA überall gibt, sondern ganz breite Dielen mit groben Wachstums-Mustern.
Die Küche ist gekachelt und es gibt ein geräumiges Bad. „Opa“, meint Irina. “Wo hast du denn die Wohnung auf-getrieben?“ Es gibt vierfachverglaste Fenster und als Irina eines davon öffnet, hört sie den Verkehr draussen vorbeibrummen. Hinten ist es auch mit offenem Fenster ganz ruhig.
Sie haben einen Balkon. Es gibt ein großes Geviert aus Wiesen und Bäumen, mit kleinen Gewächshäusern drin und Gartenhäuschen. „Hey, geil“, meint Dimmy, der das alles aufregend findet. Es ist alles so anders als in den USA.
Dann schaffen Sie alles in die Wohnung, was sie dort brauchen werden. Laptops, Skateboard, Kleidung, und auch die Sachen von Mama.
Als sie schließlich wieder in Atlanta stehen, sind nur noch die Sachen für den Flieger da. Ein paar kleine Koffer und Taschen. Mama ist immer noch nicht gekommen.
Leon schaut auf die Uhr. „So langsam wird’s Zeit.“
Er kramt das Handy aus der Tasche und ruft Vera an. Vera ist ganz aufgelöst. Sie ist jetzt auf dem Weg. Ihren Familienvan hatte sie in der Firma verkauft und sie ist jetzt mit dem Taxi unterwegs. „Ist spät, ich weiß, habt ihr schon ein bisschen vorarbeiten können? Chénoa hatte noch so viele Fragen. Es schien kein Ende zu nehmen.“
Chénoa. Das hatte Leon ganz vergessen. Er sieht seine Enkelkinder an. „Habt ihr euch von Chénoa verabschieden können?“ Irina und Dimmy schütteln den Kopf. Irina ist richtig traurig. „Haben wir irgendwie völlig vergessen.“
„Na gut, dann werden wir wohl an einem der nächsten Wochenenden Chénnoa mal besuchen müssen.“ Irinas Blick leuchtet. „Au ja.“
Chénoa ist die älteste Tochter von Leon und niemand, wirklich niemand in der Familie reicht an ihre Kräfte heran. Chénoa hat selbst in ihrer Familie eine einsame Stellung. Sie hatte Leon beerbt. Sie ist die Präsidentin aller Firmen, die der großen Familie von Leon gehören. Leon würde sich mit seiner Arbeit auf Europa beschränken. Er würde dort hoffentlich etwas mehr Zeit für seine (neue) Familie haben.
Als dann das Taxi kommt, staunen sie nicht schlecht. Mama und Chénoa steigen zusammen aus. Irina fällt ihr in die Arme. Tante Chénoa ist wirklich etwas Besonderes.
„Alles schon erledigt?“ fragt Chénoa und Irina strahlt. „Ja. Opa hat uns mitgenommen. Wir haben alles nach Deutschland geschafft. Das was wir hier lassen müssen, das wird die Firma jetzt in die Hand nehmen.“ Chénoa nickt. „Dann mal los. Holen wir das Handgepäck aus dem Haus. Den Schlüssel könnt ihr mir geben. Ich begleite euch noch zum Flugplatz.“
Als sie schließlich im Flieger sitzen, hat Dimmy einen Fensterplatz. Irina sitzt neben ihm. Es ist eines dieser neuen Konstruktionen. Diese kleinen Maschinen, die mit Gas und Solarstrom und Akkus fliegen. Benzin gibt es fast nicht mehr. Die großen Flieger, die früher einmal im Sekundentakt um die Erde geflogen waren, die waren inzwischen alle eingemottet worden. Dafür gibt es keinen Treibstoff mehr. Nur für das Militär hat man noch Dieselöl und Benzin gehortet, für den Fall eines Krieges, der hoffentlich nie eintreten wird.
Vera und Leon sitzen hinter Irina und Dimmy. Die ganze Maschine hat nur 40 Sitzplätze. Diese neuen Konstruktionen verbrauchen aber auch wirklich wenig Energie. Dimmy und Irina waren in ihrem Leben bisher aber nur ein paar mal geflogen. Das war selten geworden. Inzwischen werden die USA von schnellen Fernzügen „durchflogen“, die sich mit Gas und Elektroenergie fortbewegen. Es gibt einige Linien mit Magnetbahnen, die sind noch schneller. Sie fahren aber nur in einigen Gebieten der USA, die sicher vor Hurrikans und Windhosen sind, denn davon gibt es gewaltig viele.
Selbst das Taxi, mit dem sie zum Flughafen gefahren waren, das hat solch einen Elektroantrieb. Auch diese Antriebssysteme werden in den Fabriken hergestellt, die der Familie von Leon gehören. Die Familie ist im Bereich Energieversorgung und Umwelttechnologien weltweit führend. Diese Geschäftszweige sind noch weit gewinnbringender als diese riesige Mac Best Food Company, für die Mama direkt arbeitet.
Irina kennt sich nicht wirklich gut mit diesen Umwelttechnologien aus. Opa hatte ihnen im vergangenen Jahr einiges erzählt und sie weiß, dass Onkel Paco diese Unternehmensgruppe führt. Alles zusammen wird wiederum von Tante Chénoa geleitet, die heute am Flughafen zurück-geblieben ist.
„Ich soll euch einen Gruß von Fred und euren Geschwistern sagen“, hatte Chénoa auf dem Flughafen nachgerufen, bevor sie durch die Schleusentore gingen.
Frederik.
Fred ist ihr eigentlicher Papa. Die ersten Jahre ihres Lebens hatten sie mit Fred zusammengelebt. Eine große glückliche Familie aus vier Frauen und vielen Kindern. Alle von Fred. Irina ist die Erstgeborene, aber die großen Kinder von Tatjana, Sonja und Anastasia (das waren die anderen Freundinnen von Fred), die sind nicht viel jünger. Sie haben alle ein gutes Verhältnis zueinander, auch wenn das in den letzten Jahren etwas gelitten hat, weil sie sich nicht mehr so oft sehen.
Opa Leon hatte versucht, in den letzten 12 Monaten den Kontakt zwischen den Kindern zu verbessern. Sie hatten manchmal ihre „Tante“ Anastasia, manchmal Tatjana oder Sonja besucht. Manchmal hatten sie sich in ihrem gemieteten Ferienhaus in dem großen Seengebiet getroffen, für ein Wochenende.
Was jetzt vor ihnen liegt, wird sie wohl so beschäftigen, dass der Kontakt zu den Geschwistern zurückgehen wird. Irina ist sich sicher. Jeder Umzug hat etwas gewaltiges.
Dank ihrer Kräfte können sie sehr gut deutsch sprechen. Mit dem Schreiben hapert es aber gewaltig und sie werden viel lernen müssen.
Irina wird in die neunte Klasse kommen. In Deutschland wird das allerdings ein ganz anderer Stoff sein, als