Der Clan der Auserwählten. Hans-Peter Vogt

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Der Clan der Auserwählten - Hans-Peter Vogt

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Dresden. Irgendwann im 21. Jahrhundert

      Leon sitzt in der Frauenkirche in Dresden, jenem Kuppelbau, der einmal international zum Symbol für den Frieden geworden ist. Vor ihm steht der Sarg mit den sterblichen Überresten seiner guten Freundin Beatrice. Neben ihm in der ersten Reihe der Trauergäste sitzen seine Frau Vera und Katharina, seine Geliebte aus den Jugendtagen, sowie seine Kinder Nakoma, Lara und Chénoa Maria, die im Leben der Wundergeigerin Bea alle eine bedeutende Rolle gespielt hatten.

      Die Kuppelkirche ist zum bersten voll mit geladenen Gästen. Die Königshäuser von England, Schweden, Holland, Belgien und Spanien sind fast komplett versammelt. Einige Emire und Scheichs aus den arabischen Ländern geben Beatrice die letzte Ehre. Der japanische Tenno ist da, und die Präsidenten von Russland, Amerika und Frankreich. Aus China sind gleich fünf hochrangige Mitglieder der Parteiführung angereist, und natürlich sind auch der deutsche Kanzler und der Bundespräsident gekommen, sowie die Oberbürgermeister von Berlin und Dresden, weitere hochrangige Politiker und Wirtschafts-größen aus Industrie und Banken, unter anderem die Chefs der Deutschen Bank, Barclays, BMW, Aral, Gasprom und einige bedeutende Dirigenten und Musiker. Natürlich würde man diese Trauerfeier nutzen, um im Anschluss Gespräche im kleinen Kreis, oder sogar unter vier Augen zu führen. All die großen und bedeutenden Hotels rund um die Frauenkirche sind ausgebucht, und die Kongresszentren sind für die nächsten drei Tage für politische und wirtschaftliche Gipfelgespräche verplant. Die Trauerfeier ist der richtige Rahmen, um Kunst mit Politik und wichtigen Geschäften zu verbinden.

      Unabhängig von den Geschäften, die man betreibt, ist man hier zusammengekommen, um die Musikerin Beatrice und ihr Lebenswerk zu ehren, denn Bea war in ihrer Art unvergleichlich gewesen. Neben klassischen Konzerten hatte sie einen ganz eigenen Stil in Form von Live Acts entwickelt, mit einer Musik, die von verschiedenen nativen Stilrichtungen beeinflusst war. Damit hatte Bea ein Millionenpublikum angesprochen. Sie hatte Menschen zu Tränen gerührt und zum Lachen gebracht. Sie hatte Gegner geeint, und sie hatte mit ihrem Spiel tiefes Glück verbreitet. Niemand war zu ihren Lebzeiten jemals an die musikalischen Fähigkeiten von Bea herangekommen, und sie besitzt eine Fangemeinde, die wohl mehrere hundert millionen Menschen jedes Alters und jeder sozialen Schicht umfasst.

      Auch der Platz rund um die Frauenkirche ist dicht gedrängt mit Trauergästen, bis zum Postplatz und bis hinunter zur Brühlschen Terasse. Überall sind Lautsprecher aufgestellt, aus denen die Trauerfeier live übertragen wird. Der Bundes-präsident selbst hat es sich nicht nehmen lassen, die zentrale Trauerrede zu halten.

      Als Musik wird Händel und Bach gespielt, dirigiert vom Stardirigenten der Berliner Synphoniker und seinem Orchester.

      Rund um die Frauenkirche schirmen wohl dreitausend Sicherheitsbeamte in Zivil die Veranstaltung ab, sowie mehrere Verbände der Bereitschaftspolizei, die in der Wilsdrufer Straße, am Postplatz, und in der Sophienstraße Position bezogen haben, und in kleinen Gruppen von 12 Mann mitten in der Menge stehen. Dazu kommen Ordner in schwarzen Uniformen mit gelber Armbinde, um die Ströme an Sonderbussen, Limousinen und die Massen an Fußgängern zu dirigieren. Schließlich ist eine solche Veranstaltung auch der geeignete Ort für Attentate, oder politische Demonstrationen. So etwas will man hier nicht riskieren.

      Direkt vor der Frauenkirche gibt es einen Ring, der von Sperrgittern abgesichert ist, und zusätzlich von Polizei in Zivil, mit den typischen Ohrsteckern und Sprechfunk. Sie tragen unter ihren schwarzen Anzügen Sicherheitswesten und sind bewaffnet, aber man sieht das nicht. Hochrangige Trauergäste brauchen eben einen sichtbaren Beweis von Schutz.

      Es hätte nur die Ordner gebraucht, nicht aber die Polizeikräfte, die Sicherheitsbeamten der CIA und die Geheimdienste der russischen und chinesischen Führung, die sich hier unter die Trauergäste gemischt haben, um jederzeit eingreifen zu können, denn Chénoa Maria (die älteste Tochter von Leon) hatte bestimmt: “Wir wollen eine geordnete und ruhige Feier, und wir werden dafür sorgen, dass das Andenken an Bea in einem gebührenden Rahmen stattfindet, frei von Krakeelern, oder gar einer politisch motivierten Bluttat,” und Chénoa Maria verfügt über die Macht, dies auch durchzusetzen.

      Zu Beginn der Trauerfeier war ein verglaster Wagen durch die Menge gefahren, mit der gut sichtbaren Urne mit Beas Asche, geschmückt von Lilien, Orchideen und Chrysanthemen. Sie wurde dann in einer feierlichen Prozession in die Kirche getragen. Viele Besucher hatten Blumen mitgebracht und sie in Richtung des Wagens geworfen. Viele Besucher weinten, so dass der Wagen eine Spur aus Blumen und Tränen hinter sich ließ.

      In Wirklichkeit war die Urne leer. Beas sterbliche Überreste waren zwar am Vortag in Berlin heimlich verbrannt worden. Dort wurde auch die Urne mit ihrer Asche gut gesichert aufbewahrt. Sie würde später im “Zentrum” hinter Glas ausgestellt werden, bevor sie dann auf Beas persönlichen Wunsch auf dem Friedhof in Berlin-Schöneberg in eine Gruft überstellt werden würde. Die Gruft war bisher allerdings nur geplant, und der Bau würde sich noch einige Wochen oder Monate hinziehen. Das würde noch einmal eine letzte große Trauerfeier geben, mit tausenden von Besuchern.

      Kehren wir nach Dresden zurück. Leons Tochter Chénoa Maria sorgt wirklich für einen friedlichen Ablauf, und sie hat die Macht, dies auch durchzusetzen. Sie schickt in diesen Stunden unsichtbare Energiewellen in die Mikrophone, die sich schon vor den eigentlichen Festreden mit der Musik über die Lautsprecher verteilen. Sie hat sich Verstärkung mitgebracht. Ihre Tochter Clarissa und ihre Nichte Solveig, die irgendwo da draußen in der Menschenmenge stehen, verbunden mit einem Mikrophon. Auch sie schicken ihre Energiewellen in den Äther. Für den, der diese Energie sehen kann, wie Leon oder sein Sohn Nakoma, ist das wie ein Sturm, der sich über ganz Dresden legt und sich in den Köpfen der Menschen festsetzt. Er hinterlässt in den Herzen der Menschen einen tiefen Frieden. Niemand hätte die Kraft gehabt, sich über diese Macht der Energie hinwegzusetzen, um die friedliche Trauerfeier von Bea zu stören.

      Diese Energie von Chénoa Maria, Clarissa und Solveig gehört zu den Geheimnissen des Familienclans. Diese Energie ist da, aber man redet nicht öffentlich darüber. Sie ist eine der Ursachen, warum sich der Familienclan in den letzten 70 Jahren in den Machtzentren der Welt festsetzen konnte, wie eine Zecke. Die Sicherheitsbeamten dienen nur dazu, den Mächtigen der Welt das Gefühl von Schutz zu vermitteln, das zu den üblichen Szenarien gehört, wenn wichtige Politiker auf Reisen sind. Sie sind für die Öffentlichkeit ein Zeichen von der Präsenz der Schutzmacht, die sich in unmittelbarer Nähe der Kirche allerdings friedlich, würdig angezogen, gut sichtbar, aber auch entschlossen präsentiert, dem feierlichen Rahmen entsprechend. Das Innenministerium hat allerdings vorgesorgt. Gut trainierte Beamte in voller Montur und bewaffnet mit Schnellfeuerwaffen stehen in Nebenstraßen bereit, um notfalls einzugreifen. Bei hohen Staatsbesuchen ist das üblich.

      Leon ist nun schon ein alter Mann von 78 Jahren. Er kümmert sich um diese Dinge heute nicht. Er trauert wirklich, denn diese Freundschaft mit Bea hatte ein Leben lang bestanden. Sie hatten ihren Weg miteinander geteilt, und sie hatten so unendlich viel miteinander in Gang gebracht.

      Es gibt ein geflügeltes Wort: wenn ein Mensch stirbt - so sagt man - tritt das Leben aus ihm heraus. Leon muss unwillkürlich lächeln. Das Leben tritt aus dem Körper heraus… übrig bleibt eine leere Hülle aus Zellen und Wasser, und das Leben? Wohin ist es hin gegangen? Leon kann mit Beas Seele reden. Bea kann ihm zuhören und sie kann seine Fragen beantworten. Ihre Seele ist dageblieben. Wenn Leon nach Bea sucht, und das hat er in den letzten Tagen ein paar Mal gemacht, findet er diese Seele, aber sie lebt nicht nur in ihm, sondern auch in der Erinnerung von vielen Millionen anderen Menschen fort, und sie bleibt für die Menschen noch lange sichtbar, die Bea besonders nahegestanden haben.

      Während die Smartphones im Innern der Kuppelkirche verboten sind, um die Feier nicht zu stören, ist das draußen auf den Plätzen rund um die Frauenkirche ganz anders, obwohl die Veranstalter um Mäßigung gebeten haben.

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