Die Suche nach der Identität. Hans-Peter Vogt
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Читать онлайн книгу Die Suche nach der Identität - Hans-Peter Vogt страница 10
Dennis hob sie auf und trug sie auf die Couch. Er hielt sie in seinen Armen. Susi rang nach Luft und Fassung. Als sie wieder einigermaßen klar denken konnte, sagte sie: „Du hättest mich vorwarnen können. Das eben war ganz und gar nicht in meiner Absicht.“
Dennis lächelte. „Ging nicht, Susi. Glaub mir. Offiziell bin ich tot. Tote können nicht vorwarnen, und Susi…“, warnte er, „vorläufig bin ich weiter tot. Ich werde zu Allan und den andern selbst Kontakt aufnehmen, aber du versprichst mir, nicht zu reden, auch wenn’s schwer fällt.“
„Das wird schwer“, antwortete Susi, und sah Dennis lange an. Sie langte nach seinen Händen. Sie spürte die Narben in seinen Handflächen. Sie erschrak. Aber Dennis lächelte sie an. „Das ist nichts. Das musst du mir glauben. Ich habe zwei Jahre sehr glücklich gelebt. Weit weg. Das hier (er zeigte auf die Narben) ist ein Teil des Glücks, das ich erleben durfte.“
Dann erzählte er ein wenig von Südamerika und ließ auch Susi erzählen. Er wollte mehr wissen von Allan, Jochen und Roman, von der Talentschule und von ihrer alten Gruppe. Er sah, dass zwar alles lief und jeder seine Arbeit machte, aber er spürte auch in Susis Erzählung, dass die Freude und der Elan nicht mehr das waren, was einmal war. Susi bestätigte Lauras Erzählung. Der Organisation fehlte der kreative Kopf.
Der Nachmittag ging schnell rum. „Bitte vergiss nicht“, sagte Dennis zum Abschied. „Ich bin tot. Jedenfalls bis auf weiteres. Ich werde wieder zum Leben erweckt, aber noch nicht sofort.“
Als Conny sich mit Dennis zum Abendbrot traf, grinste sie. „Der Ritter und das Fräulein.“
Dennis knuffte sie in die Seite. „Du bist gemein.“ Laura musste lachen und sie steckte auch Dennis damit an.
Als Laura kam, fand sie zwei lachende Freunde. Sie ließ sich vom Lachen anstecken. Sie hatte gute Nachrichten. „Morgen ist’s soweit. Dann sind die Tests abgeschlossen. Trifter hat mir vorhin Bescheid gegeben. Morgen abend werden Trifter und „der Dicke“ hier sein. Dann ist Wochenende.“
Zu Laura sagte sie. „Ich würde gern mit dir und Dennis am Wochenende irgendwohin fahren, aber du erregst überall soviel Aufsehen, wo du auftauchst. Ich kann das nicht riskieren.“
Laura winkte ab. „Dann kann ich das mal nutzen, um euch loszuwerden. Ich muss noch ein bisschen lernen und auch üben.“ Die Freunde wussten, dass sie nicht rausgeschmissen werden. Sie verstanden den Scherz.
Am nächsten Morgen ging Dennis wieder in die Schule der Kids. Auch dieses Mal war er super vorsichtig.
6.
Dennis blühte in der Schule der Kids richtig auf. Es machte ihm Spaß. Ungezwungenes und freiwilliges Lernen hat mit der Regelschule nichts zu tun und läuft ganz anders ab. Die Kids lernten andere Dinge. Jeder hatte sein eigenes Lerntempo. Niemand wurde gezwungen. Sie lernten aus eigenem Interesse. Sie halfen sich gegenseitig. Sie konnten sehr konzentriert sein, aber sie konnten auch ungezügelt loslachen, wenn es etwas zu lachen gab.
Heute stand das Thema „Lesen“ auf dem Programm. Sie hatten einige leichte und schwere Texte vorbereitet. Einige der Kids konnten das gut, für andere war das tierisch anstrengend. Einer der Jungen, vielleicht acht Jahre alt, hatte sichtlich Mühe, die Zeichen zu entziffern. Dennis sah Trifter etwas auf ein Blatt Papier schreiben. Dann legte er Pauli das Blatt vor. „Lies das mal.“ Pauli stutzte. Dann las er vor, „nicht klauen. Drei neunundneunzig du Arschloch.“ Die Kids fingen an zu lachen. Sie steckten Pauli an, sie weinten Tränen. Pauli hatte das gelesen, fast ohne Stocken. Glatt vom Papier.
Selbst Trifter lachte Tränen. „Siehste, geht doch“, sagte er, und legte Pauli den andern Text noch mal vor. „Versuchs noch mal.“
Pauli nahm sich zusammen. Es ging. „Jouh“ johlte Bübchen. „Aus einem gescheiten Arsch kommt auch ein gescheiter Furz.“ Das hatte ein erneutes Lachen zur Folge, doch Trifter bat um Ruhe. „Nur nicht vulgär werden, oder habt ihr auch solche Texte?“ Die Kids johlten erneut, dann konzentrierten sie sich wieder auf das lesen.
In welcher Schule, dachte sich Dennis, wäre so was wie eben wohl möglich gewesen? Das war schon einmalig. Einmalig war vor allem die Rückbesinnung auf die Konzentration an der Sache. Sie wussten, warum sie lernten.
Es gab schwierige Texte. Dennis, der doch hervorragend zu reden wusste, stockte ab und zu. Er war nicht mehr in Übung. Vor allem, den Text so vorzulesen, dass jeder sofort verstand, worum es ging, war für ihn sehr schwierig geworden. Dennis hatte noch viel zu lernen. Er nahm sich vor, seine Bücher in Connys Haus laut zu lesen.
7.
Am Nachmittag war Dennis wieder super vorsichtig. Er wurde nicht verfolgt. Er traf Conny lernend vor und bat sie darum, den Text, an dem sie gerade saß, mit ihr abwechselnd laut zu lesen. So war es lustiger. Sie sprachen über den Text. Sie analysierten ihn. Das wiederum war Dennis Stärke. Er konnte viel über die handelnden Figuren und ihre Gefühle sagen, warum sie das sagten und nichts anderes. Warum sie freiwillig in den Tod gingen oder Gewissensbisse entwickelten. Das war Dennis Gebiet.
Irgendwann zwischendrin sagte Conny: „Warum haben wir das nicht schon viel früher gemacht?“ Du sagst da Dinge, die ich mir erst mühsam erarbeiten muss. Das kommt bei dir mit einer Leichtigkeit, dass ich nur staunen kann. Willst du nicht an meiner Stelle das Abitur machen?“
Dennis grinste, „du weist nur zu gut, dass ich schlecht lese. Mein Wissen bezieht sich auf die Fähigkeit zur Analyse von solchen Dingen. Meine Stärke ist es, mit Menschen umzugehen. Schick mich mal in eine Chemie oder Physikprüfung. Ich weiß nicht mal, was das genau ist. Ich kann dir ein einfaches Klärwerk bauen, ich habe das da unten gemacht, und sehr erfolgreich. Warum das so geht und nicht anders, das kann ich dir nur mit meinen eigenen Worten erklären aber nicht wissenschaftlich.“
Conny hatte schon verstanden. Dennis war ein Genie, aber ohne jede wissenschaftliche Grundlage. Er bezog sein Wissen aus dem Bauch und aus dem Leben. Intuitiv. Aus der Beobachtung und aus der Analyse und aus einer Art innerer Ahnung. Sie wusste, dass Dennis neugierig und offen war. Er wollte lernen. Er war gierig nach Wissen. Sie war sich dennoch bewusst, dass Dennis seine ganz eigene Entwicklung hatte. Sie versetzte ihn in die Lage, so zu sein, wie er war.
Sie fühlte, dass eine Regelschule dieses unvergleichliche Talent sicher zum Versiegen gebracht hätte. Sie wusste, was Dennis über Zwang dachte. „Flieg“, dachte sie. „Bleib frei wie ein Vogel, und lass mich von dir Lernen, solange es geht“.
Dieses Wissen über Dennis durchflog sie wie ein Blitz, dann widmeten sie sich wieder dem Text.
„Dennis“, sagte sie nach einer Weile. „Willst du mir noch mal helfen? Es gibt da einen schwierigen Text. Schiller. Das ist Prüfungsthema. Ich hatte mir das für das Wochenende vorgenommen, aber wenn du… .“
Dennis nickte und Conny brach ihren Satz ab. Dann widmeten sie sich dem „Wallenstein“. Auch hier wollte Dennis wieder abwechselnd lesen, wie in einem Theaterstück. Conny sah, dass es Dennis anstrengte, was ihr selbst so leicht fiel. Als es dann an die Analyse ging, änderte Dennis seine Taktik. Er stellte Fragen. Er wies Conny mit wenigen Worten auf mögliche Zusammenhänge hin, er forderte sie auf, selbst nachzudenken und eigene Schlüsse zu ziehen. Sie waren noch mitten im Text, als es klingelte.
Dennis