Ein Leben für die Freiheit. Michael Koch
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Zwei Frauen aus Wisconsin, die während der Weihnachtsferien 1971 die Pine Ridge Reservation besuchten, um ein Kind zur Adoption zu finden, baten die Mutter der dreijährigen Benita Rowland um Erlaubnis, das Kind auf eine mehrwöchige Reise mitnehmen zu dürfen. Auf Drängen eines örtlichen Missionars … unterschrieb Benitas Mutter ein Papier, das angeblich den zwei Frauen gestatte, mit dem Kind diese Reise zu machen. Sie nahmen prompt Benita nach Wisconsin mit und weigerten sich, sie den Eltern zurückzugeben. Es stellte sich heraus … dass das Papier … in Wirklichkeit eine Vereinbarung war, wonach sie alle Rechte aufgab und der Adoption von Benita zustimmte. Monatelang bemühten sich die Eltern erfolglos um die Rückkehr ihres Kindes. Der Schriftverkehr zeigt, dass die zwei Frauen – eine davon eine Geschichtsprofessorin an der University of Wisconsin – bereit waren, Benita käuflich zu erwerben. In einem Brief an Benitas Mutter rechtfertigten sie ihre Handlung mit dem Grund, dass ‚Gott es so gewollt habe. … Wir nahmen Ihnen Benita nicht weg; Sie gaben die physische Geburt, die wir nicht geben konnten, und wir können ihr die Möglichkeiten bieten, die Sie ihr nicht bieten können … so gehört sie uns beiden: Doch vor allem gehört sie dem Herrn.33
Ein Bericht des National Council of Juvenile and Family Court Judges aus dem Jahr 2011 zeigt auf, dass nach wie vor eine unverhältnismäßig hohe Zahl indianischer Kinder in Pflegefamilien und -einrichtungen zwangsuntergebracht ist. In einigen Reservationen sei sogar wieder eine zunehmende Tendenz solcher Kindsentnahmen zu verzeichnen, wobei keines dieser Kinder in eine indianische Pflegefamilie käme, auch wenn es diese gäbe. Die Wahrscheinlichkeit für ein indianisches Kind, aus der eigenen Familie herausgenommen und dann fremdplatziert zu werden, ist zwölf Mal höher als für weiße Kinder.
Brennpunkt dieser Entwicklung und Situation ist weiterhin Süd-Dakota. Hier werden jährlich ca. 600 Kinder aus den Familien genommen. 63 % der indianischen Kinder in diesem Bundesstaat sind nach Angaben der National Indian Child Welfare Association in Pflegeverhältnissen untergebracht.34
Dieses traurige Kapitel indianischer Geschichte kann allerdings nicht beendet werden, ohne auf zwei weitere Phänomene, nämlich die langjährige Praxis der Zwangssterilisation von indianischen Mädchen und Frauen und den Ökozid in den Abbauregionen von Uran, hinzuweisen.
Die massenhafte Zwangssterilisation indianischer Mädchen und Frauen vor allem in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts war ein weiterer Versuch, Amerika zu de-indianisieren. Diese Form des Völkermordes blieb lange Zeit der öffentlichen Wahrnehmung des weißen Amerika verschlossen und war auch hier in Europa unbekannt. Jedes Jahr wurden tausende, vor allem junge Frauen im gebärfähigen Alter, ohne deren Wissen und Einwilligung während Zahn-, Blinddarm- oder ähnlichen Operationen sterilisiert. Einzelne Berechnungen gehen davon aus, dass ca. 25 % der indianischen Frauen in dieser Zeit sterilisiert wurden. Im gleichen Zeitraum nahm die Geburtenrate der indianischen Bevölkerung um 25 % ab. Ähnliche Sterilisierungsprogramme wurden in den USA an afroamerikanischen und puertoricanischen Frauen und Mädchen sowie mit US-Unterstützung auch in lateinamerikanischen Ländern (Bolivien und Brasilien, später auch Peru) vor allem an Indigenen durchgeführt.
Anderen jungen Indianerinnen wurde gleich die Gebärmutter entfernt, und im Falle von Schwangerschaften wurden indianische Mädchen zur Abtreibung „beraten“. Erst mit dem Erwachen der Red Power-Bewegung und dem weltweit größer werdenden Interesse am Schicksal der nordamerikanischen Indianer, das sich auch im IV. Russell-Tribunal von 1984 niederschlug, wurde diese Genozidpraxis gegen die amerikanischen Ureinwohner einer breiteren Öffentlichkeit bekannt.
Das „American Indian Journal“ schrieb über diese Praxis: „Sie nahmen unsere Vergangenheit mit dem Schwert und unser Land mit der Feder. Jetzt versuchen sie, unsere Zukunft mit dem Skalpell zu nehmen.“35
Zu der bisher beschrieben Genozid- und Ethnozidpraxis kam seit Ende der 40er Jahre des 20. Jahrhunderts noch der Ökozid aufgrund der Zerstörung intakter Ökosysteme hinzu. Wie in Australien, Nigeria und einigen GUS-Staaten beginnen Anfang und Ende des nuklearen Kreislaufs, Uranabbau und Endlagerung, auch in den USA und Kanada vor allem in den Gebieten der indigenen Völker. Die Folgen sind Verstrahlung von Luft und Wasser, Vergiftung der Nahrungskette, Kontaminierung von Minenarbeitern aufgrund gesundheits- und lebensgefährdender Arbeitsbedingungen beim Uranabbau, toxische Umweltbelastung durch Chemikalien als Folge der Uranverarbeitung.
In den Uranabbauregionen Arizonas, Süd-Dakotas (beide USA) und Saskatchewans (Kanada) leben Teile der Hopi, Navajo (Dineh), Lakota/Dakota (Sioux), Cree, Chippewa und Dene in partiell radioaktiv verseuchten Reservationsgebieten. International tätige Konzerne hinterlassen in den genannten Regionen radioaktiv strahlende Abfälle, offene Probebohrlöcher und stillgelegte oder noch genutzte Abbaugebiete, die Wasser und Luft, Pflanzen, Wild und Vieh vergiften und Leben und Gesundheit der dort lebenden Menschen bedrohen.
So gab es 1986 in der Navajo-Reservation über 650 aufgelassene Bohrlöcher, Minen und Stollen und sechs stillgelegte Uranmühlen. Vor allem männliche Reservationsbewohner sahen in der Minenarbeit eine Chance, der vorherrschenden Armut zu entkommen. Über mögliche Gefahren erfuhren die indianischen Minenarbeiter nichts. 90 Cent Stundenlohn als Anfangseinkommen boten die Uran-Minen ihren Minenarbeitern. Nach den Sprengungen unter Tage durften diese dann in die unbelüfteten staubigen Stollen, um dort das Uranerz abzubauen. Ein Großteil des Uranerz-Gesteins blieb nach dessen Zerkleinerung durch die Gesteinsmühlen in von Wind und Wasser ungeschützten Tailings liegen und kontaminiert somit seit über 50 Jahren die gesamte Umgebung. In einigen Regionen wurde hieraus sogar Baumaterial für den Haus- und Straßenbau hergestellt.
Längst sind diese Siedlungen verlassen und gleichen abgeriegelten Geisterstädten. Erst nachdem die Bewohner dieser Wohnsiedlungen, meist Native Americans oder Angehörige der verarmten weißen Arbeiterklasse, über unerklärliche Symptome klagten und viele Bewohner schwer erkrankten, wurde dieser Skandal aufgedeckt.
Weitere seit langem bekannte und nachweisbare Folgen der Uranwirtschaft für Native Americans:
– in der Pine Ridge Reservation/Süd-Dakota liegen die gemessenen Radioaktivitätswerte des Grund- und Oberflächenwassers an mehreren Stellen um ein Mehrfaches über dem erlaubten Grenzwert;
– auffällig hohe Zahlen von Fehl- und Totgeburten sowie Missbildungen in Süd-Dakota und Nord-Saskatchewan.
– das Jobwunder endete für viele Navajo- und Dene-Uranminenarbeiter aufgrund fehlender bzw. unzureichender Arbeitsschutzmaßnahmen und mangels Risikoaufklärung tödlich;
– Western-Schoshone-Indianer leben in den kontaminierten Atomtestgebieten Nevadas, zudem drohte ihnen bis zum Amtsantritt von US-Präsident B. Obamas ein gigantisches Endlager hochradioaktiver Abfälle.
Die Gesundheitsstudie der Women of All Red Nations (WARN) aus dem Jahr 1980 beschreibt ausführlich die hohe Rate an Knochenkrebserkrankungen, problematischen Schwangerschaften oder genetischen Defekten als mögliche Folgen der nuklearen Kontaminierung des Trinkwassers in Teilen der Pine Ridge Reservation aufgrund von Uranvorkommen, -abbau und -verarbeitung sowie Einsatz uranhaltiger Munition in militärischen Versuchsgeländen (bombing ranges) in den Badlands. Und für die Navajo gilt fast vierzig Jahre später, also Ende der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts, dass