Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke

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Systemtheorie III: Steuerungstheorie - Helmut Willke

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mit Lindblom das Ziel, neue Formen und Verfahren der demokratischen Aktivierung von Machtpotenzialen zu entwickeln. Während Lindblom gegenüber einer als zu gewichtig eingeschätzten Rolle von Wissenschaftlichkeit, Vernunft und Sachverstand nun den »gesunden Menschenverstand« des Laien ins Spiel bringt, setzt Etzioni auf Moral. Beide Auswege aus der Steuerungskrise des Demokratiemodells müssen systemtheoretisch aufgeklärten Europäern Schauer über den Rücken jagen. Aber in den USA funktionieren Begriffe und Konzeptionen anders (Ackerman 1991, Kap. 1). Dort hat die Erneuerung der Demokratie aus der Erneuerung von Familie, Kommune und »communities« eine Tradition, die bis zur Landung der Mayflower zurückreicht. Die »praktische Vernunft« des einfachen Bürgers ebenso wie die »kommunitarischen Werte« der primären Lebensgemeinschaften sind sicherlich die stärksten Wurzeln der amerikanischen Demokratie – und insofern ist es schon weniger verwunderlich, dass sowohl Lindblom wie auch Etzioni darauf zurückkommen.

      Lindblom sieht die Intelligenz der Demokratie durch die partikulare Intelligenz der Experten und Wissenschaftler graduell ausgehebelt; er plädiert deshalb für eine Verstärkung der Mechanismen der Selbststeuerung und dafür, die Aktivitäts- und Machtpotenziale der vielen Laien besser zu nutzen. Komplementär dazu postuliert Etzioni eine folgenreiche Verzerrung unseres Verständnisses kollektiver Entscheidungsfindung durch die massive Vorherrschaft des »rational-choice-Modells«, also eines Modells der Person als isoliertem rationalem Akteur. Er argumentiert, dass es für die Konstruktion eines viablen (lebensfähigen) Steuerungsmodells moderner Gesellschaften nicht ausreiche, wenn rationale Individuen gemäß ihrer je privaten und egoistischen Kosten-Nutzen-Kalküle zwischen Optionen auswählen; denn in diesem Prozess gesellschaftsweit summierter Egoismen verkümmerten gemeinschaftliche[50]Werte und die Rücksicht auf gemeinschaftliche Güter. Zugleich aber kritisiert er »starke« Kommunitaristen wie Sanders, MacIntyre oder Walzer, die wiederum einseitig auf die Steuerungswirkung gemeinschaftlicher Moral setzten und darüber das Individuum und seine individuellen Rechte vernachlässigten.

      ». those who recognize only the primacy of the community and consider individual rights either secondary and derivative or assert simply that ›there are no such rights‹ (MacIntyre 1984, p. 69), open the door to the intolerance, or worse, the tyranny found not only in totalitarian ideologies but also in absolutist theology and authoritarian political philosophies. Equally unacceptable are positions that focus exclusively on individual rights, particularly the extreme libertarian stand; few endorse policy ideas such as those that allow an individual the right to choose whether or not he or she wishes to defend his or her country (Nozick 1974). This may leave few to defend a country … The problems of the libertarian position hold for other common goals we all value, from concern for future generations to the condition of the environment (Etzioni 1991, S. 66).

      In diesem Dilemma versucht Etzioni eine vermittelnde Synthese beider Positionen, ein Modell des »I & We«, das er allerdings nicht sehr weit ausarbeitet. Immerhin stellt er die entscheidende Frage nach der angemessenen Balance beider Momente und illustriert die Konsequenzen jeglicher Einseitigkeit bezeichnenderweise an unterschiedlichen Modellen der Gesellschaftssteuerung:

      »Wherein lies the proper balance? While no simple guideline suggests itself, the social-historical context provides an important criterion: societies that lean heavily in one direction tend to ›correct‹ in the other. Thus, communist societies have been moving recently to enhance individual liberties. At the same time, American society, believing itself to have tilted too far toward Me-ism [hier: Kunstwort aus Me und ism, H. W.] and interest-group dominance, has been shifting toward a greater emphasis on national priorities and obligations to the community. Other such ›balancing‹ criteria remain to be evolved (Etzioni 1991, S. 67).

      Immerhin hat die jüngste Geschichte dieses Argument eindrucksvoll bestätigt. Die kommunistischen Gesellschaften sind auch – und vielleicht sogar vorrangig – an ihrem Mangel an individuellen Freiheiten zerbrochen; und in den USA ist ein Präsident und eine Administration 2013 zum zweiten Mal an die Macht gekommen, die ausdrücklich die Verpflichtungen der einzelnen für die Gemeinschaft und für kollektive Güter (z. B. ein brauchbareres Gesundheitssystem und Erziehungssystem) wieder stärker betonen.

      [51]Der Generaleinwand gegen diese wohldurchdachten und ernstzunehmenden Ideen zur Revision des Steuerungsmodell Demokratie ist, dass beide Autoren die Wirkung des einen Faktors unterschätzen, der wie kein zweiter die Problematik der Steuerung moderner Gesellschaften prägt: funktionale Differenzierung. Die Radikalisierung der »gesellschaftlichen Arbeitsteilung« zur funktionalen Autonomie und zur operativen Geschlossenheit der gesellschaftlichen Teilsysteme erzeugt erst die zentrifugale Dynamik, der die westlichen Demokratien auch nicht durch den Rückgriff auf gesunden Menschenverstand und Moral entrinnen können. Im Gegenteil: Um die eigensinnigen Funktionssysteme und die sie prägenden Organisationen und Assoziationen dazu zu bringen, miteinander zu kommunizieren, bedarf es nicht nur einer elaborierten Verhandlungslogik und voraussetzungsvoller Fähigkeiten des kollektiven und strategischen Handelns (Elster 1987, Kap. 1.4). Darüber hinaus ist genau das nötig, was den gesunden Menschenverstand ebenso überfordert wie eine auf die eigene »community« bezogene Binnenmoral – nämlich die Fähigkeit zur Reflexion des Teils auf die Bedingungen der Möglichkeit des Ganzen.

      In der politischen Praxis vor allem der west- und nordeuropäischen Demokratien entwickelte sich in den 1970er-Jahren als Reaktion auf zunehmende Probleme der Regierbarkeit eine Form der kollektiven Entscheidungsfindung und Interessenmediatisierung, die in der wissenschaftlichen Diskussion unter dem Titel Neokorporatismus Aufmerksamkeit fand. Praxis und Theorie des Neokorporatismus sind für eine Steuerungstheorie moderner Gesellschaften aufschlussreich, weil sie als Versuch verstanden werden können, in einem gesellschaftlichen Großexperiment die Grenzen des politischen bzw. parlamentarischen Demokratiemodells neu zu definieren. Im Kern ging es (und geht es nach wie vor) darum, eine Form des Demokratiemodells zu erfinden, die den Ursprung des Modells in der vom Primat der Schichtendifferenzierung geprägten liberalen, bürgerlichen Gesellschaft des späten 18. und 19. Jahrhunderts aufhebt in einer Revision, welche die humanen und emanzipatorischen Errungenschaften der demokratischen Revolutionen bewahrt und zugleich den Weg für eine Berücksichtigung der Folgen funktionaler Differenzierung freigibt.

      Eine besonders massive Folge ist die Multiplizierung, Pluralisierung und Dezentrierung von Machtbasen in unterschiedlichsten organisierten Sozialsystemen (Organisationen, Professionen, Assoziationen, Korporationen, Netzwerken etc.) innerhalb einer Gesellschaft. Die Politik als ihrerseits ausdifferenziertes Teilsystem mit der Funktion, für die Gesellschaft insgesamt die erforderlichen kollektiv verbindlichen Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, kann nicht einmal mehr hoffen, diese Aufgabe ohne die Beteiligung der großen Quasi-Gruppen und ihrer korporativen Akteure[52] lösen zu können (Mayntz 1993, S. 42). Gerade in Politikfeldern, in denen sich machtvolle autonome Verbände herausgebildet haben, nämlich in der Wirtschafts-, Gesundheits-, Sozial-, Wissenschafts-, Energie- oder Verkehrspolitik, kann von einer unabhängigen Entscheidungskompetenz der Politik keine Rede sein. Gewerkschaften, Unternehmerverbände, Krankenkassen, Ärzteverbände, Krankenhausträger, Wohlfahrtsverbände, Wissenschaftsvereinigungen, Automobilklubs, regionale Energieverbände etc. sind Beispiele für eine Vielzahl gesellschaftlicher Akteure, die nicht zum engeren Bereich der Politik gehören – und ohne deren Beteiligung in den entsprechenden Politikfeldern dennoch keine nachhaltige Politik gemacht werden kann.

      Idee und Praxis des Neokorporatismus kommt hier das Verdienst zu, die gesellschaftsgeschichtlich allmählich gewachsene Struktur der Interessenmediatisierung in komplexen, hochorganisierten Gesellschaften ans Tageslicht gebracht und einer demokratietheoretischen Überprüfung zugänglich gemacht zu haben (Schmitter 1983). Sie haben eine Praxis, die lange als Pluralismus, Politikberatung, »pressure-group-politics«, Verbändepolitik etc. verbrämt wurde, aus dem demokratischen Halbdunkel gezerrt und die Frage unabweisbar gemacht, ob Demokratie als Steuerungsmodell einer komplexen Organisationsgesellschaft haltbar ist oder nicht.

      Wie nicht anders zu erwarten, sind die Antworten auf diese Frage sehr unterschiedlich ausgefallen (Czada u. a. 1993; Lehmbruch 1984; Lehmbruch 1979; Nollert 1992; Willke 1983,

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