Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke
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»For such problems, all solutions remain closed off unless and until people experience sufficient distress to induce them to reconsider the institutions, social processes, or behavioral patterns up to that moment regarded as parameters. Expert opinion and social research on policies for such problems come to nothing in the absence of a reconsideration of volitions, nor can social scientists or experts of any other kind themselves accomplish the reconsideration. … If people do not feel an aversion to a situation or state of affairs, they cannot formulate it as a problem, nor will they seek to escape from that state of affairs, nor is there any reason why they should or would« (1990, S. 217, Hervorhebung H. W.).
Lindblom kommt hier zu Schlussfolgerungen, die ziemlich frappierend den systemtheoretischen Konzeptionen der Selbststeuerung komplexer Sozialsysteme und der Unwahrscheinlichkeit gelingender Intervention in komplexe Problemlagen entspricht (siehe dazu ausführlich Systemtheorie II, bes. Kap. 5). Allerdings scheint seine Perspektive zu sehr von den Erfahrungen misslingender oder gar unmöglicher Reformen (in einem amerikanischen Kontext) geprägt zu sein, so dass an manchen Stellen der Eindruck entsteht, er schütte das Kind mit dem Bade aus. Zur besseren Übersicht kontrastiere ich die unterschiedlichen gesellschaftlichen Steuerungmodelle von Lindblom in Abbildung 2.1.
Insbesondere scheint mir zu kurz zu kommen, dass moderne Demokratien wesentlich von einer fortgeschrittenen funktionalen Differenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme geprägt sind. Fortgeschrittene funktionale Differenzierung bedeutet, dass sich die Funktionssysteme (Politik, Ökonomie, Wissenschaft, Erziehung, Gesundheitssystem etc.) nicht nur aufgrund ihrer Eigensinnigkeit und Eigendynamik politisch schwerer erreichen und steuern lassen, sondern dass sie auf der anderen Seite eigenständige interne Problemlösungskapazitäten ausbilden, einschließlich spezifischer professioneller und organisatorischer Expertise. Es ist deshalb gar nicht nötig, aus der (berechtigten) Ablehnung des »wissenschaftlichen« Modells heraus nun Selbststeuerung vorrangig oder gar ausschließlich auf die schwachen Schultern von Laien zu verlagern. Die Hauptlast der Selbststeuerung tragen in hochorganisierten Gesellschaften nicht isolierte Einzelne, sondern organisierte und korporative Akteure, die in der Lage sind, kollektives Handeln in differenzierten, lokalen und vernetzten Organisationen und Gruppierungen zu mobilisieren.
[47]
Quelle: Eigene Darstellung
Abbildung 2.1: Evolution der gesellschaftlichen Steuerungsmodelle nach Charles Lindblom
Korporative Akteure können sich – und sie tun dies in der Regel auch – von den Interessen und Absichten ihrer Mitglieder unabhängig machen, obwohl es diese Mitglieder sind, welche den korporativen Akteur zunächst schaffen:
»Once individual actors create a corporate actor – vest authority and resources in it and entrust it with the right to represent them, to act and negotiate in their name – this actor usurps new competences, mobilizes new resources and engages in new fields of activity in pursuit of its own interest in survival and power« (Flam 1990, S. 9).
Aus diesem Grund ist es unabdingbar, neben Personen auch korporativen und anderen kollektiven Akteuren eine eigenständige Handlungs- und Strategiefähigkeit zuzuschreiben.
Hinzu kommt, dass moderne Demokratien eine ganze Reihe von komplexen Sachfragen von Mehrheitsentscheidungen freigestellt und professionellen Organisationen oder Einrichtungen überantwortet haben. Gerichte bis hin zum Verfassungsgericht, Untersuchungskommissionen, Zentralbanken, Regulierungsbehörden (»regulartory agencies«), Ethikkommissionen im Forschungssystem etc. setzen zur Erfüllung ihrer Aufgaben »eher auf Qualitäten[48] wie Expertise, Professionalismus, Unabhängigkeit und Kontinuität (…) als auf direkte demokratische Verantwortlichkeit« (Majone 1993, S. 104).
Insofern ist in meiner Sicht die Stoßrichtung der Lindblom’schen Kritik zwar richtig und berechtigt. Er lässt sich aber von der etwas grobschlächtigen Dichotomie von wissenschaftlicher und selbststeuernder Gesellschaft zum entgegengesetzten Extrem einer Laienherrschaft hinreißen, die angesichts der unwiderruflichen Verwissenschaftlichung, Technisierung, Komplizierung und Vernetzung aller Momente gesellschaftlicher Wirklichkeit hoffnungslos alteuropäisch erscheint. Zwar gibt es seit einigen Jahren eine unüberhörbare Diskussion über die Einführung oder Erweiterung von Möglichkeiten des Volksentscheids in westliche Verfassungen (Beedham 1993) – dem würde Lindbloms Argument entsprechen. Aber die meisten der in der Debatte für Volksentscheide angeführten Argumente sprechen weniger für eine Stärkung direkter Demokratie als für eine Stärkung des Subsidiaritätsprinzips. Kernpunkt der Auseinandersetzung ist deshalb gerade nicht Laienherrschaft, sondern die Selbststeuerung der in einer bestimmten Sache oder Problemlage betroffenen und kompetenten Sozialsysteme. Die überkommene Form repräsentativer Demokratie bewegt sich auf der Grenzlinie zwischen einer latenten und einer manifesten Krise, nicht weil sich »oben« die Experten befinden und »unten« die Laien, welche nach Lindblom nun ihren Leidensdruck selbst in Veränderungsenergie umsetzen müssen, sondern weil in den politischen Zentren Repräsentanten ohne Expertise und ohne professionelle Schulung für ihre spezifische Aufgabe sitzen, welche die Sprache der dezentral verteilten Experten, Involvierten und Professionellen gar nicht mehr verstehen können.
Den Hauptmangel von Lindbloms revidiertem Modell einer selbststeuernden Gesellschaft sehe ich deshalb darin, dass er die »mittlere« intermediatisierende Ebene der Gruppierungen, Organisationen und Korporationen vernachlässigt. Betont man diese Ebene, dann verliert der Gegensatz von wissenschaftlicher und selbststeuernder Gesellschaft seine Schärfe. Dann kommt in den Blick, dass auch eine selbststeuernde Gesellschaft auf eine möglichst intelligente Verknüpfung von dezentraler Expertise und dezentraler Mobilisierung von Macht zur Durchsetzung wissensbasierter Veränderungsstrategien angewiesen ist. Das Großproblem Umweltzerstörung bietet dafür einen harten Anschauungsunterricht: Es ist schwer zu sehen, wie etwa im Bereich alternativer Verkehrssysteme der »normale« Bürger als Laie zu Vorstellungen und dann zur Mobilisierung von politischer Macht kommen könnte, um in diesem extrem komplexen und verschachtelten Problemfeld umweltverträglichere Lösungen herbeizuführen. Nicht nur sind einige der folgenreichsten Risiken des Individualverkehrs wie Zerstörung der Ozonschutzschicht, Zerstörung der Wälder oder Vergiftung der Luft gerade nicht unmittelbar erfahrbar, so dass auch kein unmittelbarer Leidensdruck entsteht; [49]vielmehr scheinen praktische Verbesserungen deshalb so schwer durchsetzbar zu sein, weil jede Lösung zunächst mehr Verlierer als Gewinner, mithin mehr Widerstand als Zustimmung, mehr Kosten als Nutzen erzeugt.
Solange es nicht gelingt, qua Überzeugung, Expertise, Ausgleichsmaßnahmen, Verhandlungskunst und generalisierter politischer Macht aus dieser Mechanik der Verhinderung von Veränderung auszubrechen und eine zumindest mittelfristige Perspektive der Problemlösung – und das heißt der Verteilung von Nutzen und Kosten – zu etablieren, solange bleiben auch bei einer verstärkten Beteiligung von Laien und einer verstärkten Berücksichtigung von (durch Betroffenheit generierten) individuellen Machtpotenzialen die gegenwärtigen Großprobleme unlösbar.
Einen anderen Weg back to basics verfolgt Amitai Etzioni in seinen späteren Arbeiten. Angesichts einer manifesten Unfähigkeit selbst entwickelter