Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke

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Systemtheorie III: Steuerungstheorie - Helmut Willke

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des viktorianischen Englands modelliert worden ist … Bei dieser neuen Persönlichkeit sind zwei Eigenschaften unabdingbar: ›Erziehung‹ versucht Menschen zu schaffen, die kollektiven Interessen ›autonom‹ dienen, d. h. die aus eigener Initiative das tun, was man ihnen in anderen Gesellschaften befehlen oder wozu man sie überreden müßte. ›Erziehung‹ hat außerdem Menschen zu schaffen, die sich für besondere Aufgaben dem Staat und der Partei freiwillig zur Verfügung stellen« (Lindblom 1980, S. 103).

      Heute, über 30 Jahre später, wissen wir genauer, wie selbstzerstörerisch diese Versuche waren. Dennoch erledigt diese Einsicht nicht die Relevanz des präzeptoralen Modells politisch-ökonomischer Organisation moderner Gesellschaften. Denn auch liberale Demokratien haben der Versuchung präzeptoraler Lenkung der Freiheit nicht widerstanden. Sie sind aber aufgrund ihrer Offenheit der Paradoxie von Überredung stärker ausgesetzt und mussten und konnten deshalb diese Paradoxie besser verstecken, was Lindblom in einem erstaunlich gebauten Argument konstatiert und zugleich zur Stützung der »Normalität« präzeptoraler Systeme nutzt: »Wenn sich Herrschaft und Autorität im liberalen Verfassungsstaat des Westens hinter einer Rhetorik der Partizipation und Initiative verbergen, dann darf es nicht überraschen, sie auch in einer präzeptoralen Ideologie verschleiert zu finden« (Lindblom 1980, 112). Aber er geht einen Schritt weiter und hebt diejenigen Aspekte der präzeptoralen Gesellschaftssteuerung hervor, die heute und auch im Fall liberaler Demokratien besonderes Augenmerk verdienen: Zum einen sind das einige bemerkenswert humane Elemente der präzeptoralen Vision sozialer[40] Organisation, die etwa in dem berühmten Wort Maos ausgedrückt sind, wonach von allen Dingen in der Welt Menschen das Kostbarste sind. Als Vision vom erzogenen und schließlich mündigen Bürger ist diese Formel nicht zwingend weniger attraktiv und weniger human als die nach wie vor dominanten Formeln vom marktrationalen und machtrationalen Bürger. Sie spiegelt den in allen präzeptoralen Versuchen durchscheinenden Vorbehalt gegen zu hohe Spezialisierung, Einseitigkeit und gegen Kästchendenken und trifft sich darin einerseits mit aktuellen Entwicklungen in der Organisationsund Unternehmenssteuerung (ausführlicher dazu Systemtheorie II, Kapitel 4); und andererseits mit neueren Überlegungen zu den Folgekosten und Risiken hochgetriebener Spezialisierung und Differenzierung moderner Gesellschaften (dazu Willke 1993b; (Willke 2007a; Willke 2009).

      Hier genau, im Bereich hochkomplexer liberaler Demokratien, könnte das Modell einer präzeptoralen Steuerung die Brisanz gewinnen, die es für unterentwickelte sozialistische Gesellschaften wie Kuba oder China längst verloren hat. Denn es ist kaum erkennbar, wie das Marktmodell gesellschaftlicher Selbstorganisation auf der einen Seite, das Machtmodell politischer Steuerung der Gesellschaft auf der anderen Seite ausreichen könnten, um die manifesten Funktions- und Steuerungsprobleme in den Griff zu bekommen, welche in wesentlichen Merkmalen auf eine wild gewordene Marktlogik einerseits, eine stumpf gewordene Machtlogik andererseits zurückgehen. Bei einer ganzen Reihe unzweifelhaft drängender, explosiver und risikoreicher Problemlagen wie etwa der gegenwärtig laufenden Zerstörung des tropischen Regenwalds und der schützenden Ozonschicht, aber auch bei Problemen wie dem der Abfallbeseitigung, des Raubbaus an endlichen Energieträgern, der Vergiftung von Boden, Wasser und Luft, des Drogenkonsums etc. verquicken sich zudem ökonomische Borniertheit und politische Machtlosigkeit, so dass es nicht viel Vorstellungsvermögen braucht, um zu erkennen, dass die Logiken des Marktes und der Macht allein für zu viele Problemlagen keine ausreichenden Lösungen in Aussicht stellen.

      Tatsächlich spielt Lindbloms dritte Steuerungsform neben Macht und Markt gerade bei den genannten Problemen eine besondere Rolle. Die Bildung neuer individueller und kollektiver Verhaltensweisen ist einerseits unabdingbare Voraussetzung für nachhaltige Problemlösungsstrategien; andererseits wissen wir inzwischen aus Erfahrung, dass sich die erforderlichen Verhaltensänderungen weder befehlen noch kaufen lassen. Aufklärung und Erziehung sind deshalb notwendige zusätzliche Steuerungsformen, auch wenn längst nicht klar ist, wie dieses »people processing« wirksam gestaltet werden könnte, ohne die betroffenen Personen – und das sind in der Regel wir alle – zu Schulkindern zu degradieren. Die meisten staatlichen Aufklärungskampagnen sind eher abschreckende Beispiele. Andererseits gibt es[41] ermutigende Beispiele für erfolgreiche Lernprozesse in Teilbereichen des Umweltschutzes, der Abfallvermeidung, des Umgangs mit Aids, des Schutzes von Nichtrauchern etc. besonders dann, wenn die Kampagnen von privaten Organisationen und Betroffenengruppen getragen werden.

      Vielleicht ist es der wichtigste Beitrag Lindbloms zum Projekt der Revision der Demokratie, dass er die beengende Alternative von Markt und Staat aufgebrochen und mit der Vision eines durch präzeptorale Elemente durchsetzten Systems angereichert hat. Nach vielen desillusionierenden Erfahrungen kann man heute wissen, dass alle bislang vorgeschlagenen »dritten Wege«, einschließlich Lindbloms präzeptoralem Regime, konzeptionell zu einfach angesetzt und gerade in weniger entwickelten Gesellschaften praktisch chancenlos waren. Eine Anreicherung der Demokratie setzt wohl eine bereits hochentwickelte Form von Demokratie voraus – eine Bedingung, die in China, Kuba oder Jugoslawien nicht gegeben war.

      Theoretisch gesehen, ist selbst in hochentwickelten Demokratien ein Erfolg präzeptoraler Elemente unwahrscheinlich, weil die Schwierigkeiten der verändernden Intervention in komplexe personale oder soziale Systeme sehr viel grundsätzlicher sind, als bislang angenommen. Erst auf dem Hintergrund einer elaborierten Systemtheorie, Kommunikationstheorie, Theorie der Beobachtung und einer Interventionstheorie lässt sich begreifen, wie voraussetzungsvoll gelingende Intervention ist – und mithin, wie schwierig die kontrollierte Veränderung sozialer Systeme.

      Auch Etzioni schlägt eine Weiterentwicklung des Steuerungsmodells moderner Gesellschaften vor, um über die Beschränkungen der gegenwärtigen Form von Demokratie hinaus zu gelangen. Nicht zufällig zielt sein Vorschlag in eine ähnliche Richtung wie der Lindblom’sche, auch wenn er ein anderes Begriffsinstrumentarium verwendet. Sein Ausgangspunkt ist die Unterscheidung zweier Arten von Ressourcen der Systemsteuerung, Konsens und Kontrolle. Konsens erzeugt die Art von Kohäsion und Zusammenhang, die eher passive Sozialsysteme des Typs Gruppe und Gemeinschaft kennzeichnen, während Kontrolle das Hauptmerkmal eher aktiver und zielorientierter Sozialsysteme wie Organisationen und staatlicher Einheiten ist. Allerdings, so Amitai Etzioni, verfügen alle konkreten Sozialsysteme über beide Momente in unterschiedlichen Gewichtungen, so dass ein bestimmtes System im Laufe seiner Entwicklung unterschiedliche Mischverhältnisse ausbilden und so auch unterschiedliche Identitäten annehmen kann:

      »Societal units may be thus viewed in terms of a ›two-dimensional activeness space‹. They may be characterized as commanding varying degrees of controlling and consensus-forming capacities. Above all, it is important to note that there is no necessary contradiction between cohesive units[42] and control networks; both are important for increasing the societal capacity to act, and active units command both cohesive and control elements« (Etzioni 1971, S. 109).

      Etzioni überträgt diese Grundidee auf ganze Gesellschaften und kommt, je nach Mischungsverhältnis von Konsens- und Kontrollkapazitäten, zu vier idealtypischen Ausprägungen von gesellschaftlichen Systemen der Selbststeuerung (siehe Tabelle 2.1).

      »To start with an elementary classification derived from the basic components of societal guidance, four types of societies suggest themselves: (1) those low in both control and consensus-building, passive societies, a type approximated by many underdeveloped nations; (2) those whose control capacities are less deficient than their consensus-building mechanisms, overmanaged societies, a type approximated by totalitarian states; (3) those whose consensus-building is less deficient than their control capacities, drifting societies, a type approximated by capitalistic democratic societies; (4) and societies effective in both realms, active societies, a type which is a ›future system‹ or societal design« (Etzioni 1971, S. 466).

      Bemerkenswert ist die Einordnung gegenwärtiger demokratischer Industriegesellschaften als dahintreibend. Diese frühe Diagnose Etzionis, die vor allem vom Bild der USA geprägt und auf diese bezogen war, ist auch heute keineswegs überholt. Alle westlichen Demokratien haben sich von ihren je gegenwärtigen Problemen treiben

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