Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke

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Systemtheorie III: Steuerungstheorie - Helmut Willke

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der diese verteilten, dezentralen und differenzierten Sozialsysteme innerhalb einer Gesellschaft zu aktiv handelnden Akteuren macht. Im Anschluss an Etzioni lässt sich deshalb formulieren, dass eine aktive Gesellschaft in dem Sinne und in dem Maße aktiv ist, als ihre verteilten korporativen Systeme zu eigener kollektiver Handlungs- und Selbststeuerungsfähigkeit gelangen. Daraus folgt eine Form der aktiven Gesellschaft, die nicht durch ein konsensgeleitetes, einheitliches »gesamtgesellschaftliches« Aktivitätsniveau gekennzeichnet ist, sondern durch eine Vielzahl konkurrierender und divergierender, zunächst und grundsätzlich in Dissens zueinander operierender Sozialsysteme, die aber – darauf kommt es hier an – je für sich das[30] Niveau eines aktiven gesellschaftlichen Teilsystems erreicht haben. Diese Form der Gesellschaft ist aktiv im Sinne eines eigendynamischen, nicht trivialen und selbsttransformierenden Systems, aber sie erreicht dieses Niveau einer »self-triggered transformability« als Folge einer ungesteuerten Kombination aktiver Teilsysteme.

      Die Fähigkeit großer Organisationen und korporativer Akteure zur Selbsttransformation beruht zwar auf einer Eigenkomplexität, die zu Selbstreferenzialität, zu Selbstthematisierung und operativer Geschlossenheit und mithin zu hohen Graden der Indifferenz und Unbeeinflussbarkeit dieser Systeme führt. Aber das heißt nicht, dass sie sich nicht verändern könnten. Was ihnen an direkter Zugänglichkeit für externe Interventionen abgeht, gewinnen sie an Sensibilität gegenüber internen Zuständen und Ereignissen. Dies kann so weit gehen, dass Systeme sich entlang der Richtschnur intern imaginierter Leitbilder verändern. Die Fähigkeit zur Selbsttransformation verweist auf die Rolle von Selbstbildern (»self-image«), Leitbildern und Visionen für die Selbstorganisation und Selbststeuerung von Systemen. Auch in dieser Hinsicht nimmt Etzioni eine Idee vorweg, die erst gegenwärtig wieder hoffähig wird: die Wiederentdeckung von Ideen, Werten und Visionen als Kriterien der Systementwicklung (siehe z. B. Majone 1993).

      Die Fähigkeit der politischen Systeme entwickelter Demokratien zur Selbsttransformation ist wesentlich, weil die Politik (als Bestandteil einer verteilten, polyzentrischen Form von Gesellschaft) vor historisch neuartigen Schwierigkeiten der Erfüllung ihrer gesellschaftlichen Steuerungsfunktion steht – der Produktion und Durchsetzung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Die erprobten Mittel direkter Intervention und extern verfügter Veränderung, nämlich Macht und Geld, genügen angesichts der Komplexität, Undurchdringlichkeit und Innen-Orientierung korporativer Systeme nicht mehr (Näheres dazu in Kapitel 5 und 6). Damit haben diese Mittel nicht ausgedient; für die Masse der Routineprobleme und Alltagsinterventionen in überschaubaren und individualisierbaren Problemlagen sind sie auf der Höhe ihrer Zeit und inzwischen gewissermaßen perfektioniert. Aber mit Blick auf die qualitativ neuartigen Problemlagen von atomaren, biologischen und chemischen Gefährdungen, Umweltzerstörung, Massenarbeitslosigkeit, sozialem Elend, Drogenkonsum, organisierter Kriminalität, Finanzkrise, öffentliche Verschuldung etc. muten die herkömmlichen Mittel des Staates für regulative Politik an wie die Tomahawks der Indianer gegenüber den Winchester-Gewehren der Siedler.

      Wichtiger ist als eine Revision der Mittel der Politik ist zunächst eine Revision der Form der Demokratie als gesellschaftliches Steuerungsmodell. Grob vereinfacht lässt sich sagen, dass die Form des Wohlfahrtsstaates sich an der Herausforderung entfaltet hat, die individuellen Leiden an den Kosten[31] der Modernisierung zu lindern. Ein weitergehender Anspruch gesellschaftlicher Steuerung kommt zu seiner Form, wenn die Politik sich der Herausforderung stellt, die kollektiven Leiden an den negativen Externalitäten der Arbeitsweise der aktiven Gesellschaft auf ein systemverträgliches Maß zu bringen. Die gravierendste Veränderung sowohl in der Form der aktiven Gesellschaft wie in der korrespondierenden Form aktiver Gesellschaftssteuerung sehe ich in der gegenüber früheren gesellschaftsgeschichtlichen Formationen einschneidend gestiegenen Bedeutung von Wissen. Die gesellschaftliche Produktion, Allokation, Dislozierung und Verwendung von Wissen ist zum Angelpunkt der Ausbildung der aktiven Gesellschaft geworden: »Processes long considered largely the domain of economic and coercive factors are increasingly influenced by the allocation, withholding, and management of knowledge« (Etzioni 1971, S. 134). Sie werden auch zum Angelpunkt der Antwort auf die Frage werden, ob es gelingt, eine dem Entwicklungsstand der Gesellschaft entsprechende Form aktiver Steuerung zu schaffen.

      In Etzionis Theorie der aktiven Gesellschaft hat die Frage des Umgangs mit kollektivem Wissen als zentraler Ressource sozietaler Steuerung konstitutive Bedeutung. In der Anerkennung der formenden Rolle kollektiven Wissens kann er sich zwar auf wichtige Arbeiten der Wissenssoziologie berufen, doch bringt er insofern einen neuen Aspekt ins Spiel, als er in gesellschaftstheoretischer Absicht Wissen neben Macht und Geld als eigenständigen, in seiner Steuerungswirkung zumindest ebenbürtigen Faktor der säkularen Konstruktion gesellschaftlicher Realität ernst nimmt. Der erste Schritt hierzu ist ein Verständnis der Bedeutung des kollektiven Wissens gegenüber dem gewöhnlich im Vordergrund stehenden individuellen Wissen. Das in den gesellschaftlichen Operationsmodus eingegrabene und institutionalisierte Wissen, von Konventionen, Regelsystemen, der Sprache über spezialisierte Steuerungsmedien bis hin zu den identitätsstiftenden Symbolen und geschichtlich gewordenen Selbstverständnissen, ist in eigensinniger Weise unabhängig von individuellen Wissensbeständen. Es unterliegt autonomen Entwicklungsbedingungen und Dynamiken und zeigt deshalb sozietale Wirkungen, die von den Wirkungen individuellen Wissens grundverschieden sind. Dies werde ich in Kapitel 7 ausführen. Festzuhalten ist hier, dass Existenz und Relevanz kollektiven Wissens mit hinreichender Plausibilität zeigen, dass eine auf Individualmerkmale und individuelle Eigenschaften reduzierte Beobachtung nicht nur nicht ausreicht, sondern sogar irreführend ist. Ihr entgehen diejenigen Momente von Gesellschaft, welche diese als emergente Ebene der Systembildung über die bloße Aggregation von Individuen hinaus zu einer eigenständigen »sozialen Tatsache« machen.

      So kommt es z. B. für das Aktivitätsniveau und den Grad der Reflexionsfähigkeit sowohl von Gesellschaften wie von Organisation nicht nur auf die[32] Wissensbestände und das Lernverhalten ihrer Mitglieder an. Zumindest ebenso bedeutsam sind die in »standing operation procedures« und unpersönlichen Satzungen und Regelwerken eingelassenen Definitionen von systemischen und systemisch relevanten Erwartungen, die das Handeln der Mitglieder steuern. Steuernd wirkt dabei die organisierte Selektivität der in den spezifischen Regelsystemen stabilisierten Erwartungsmuster, die bestimmte Anschlüsse fördern und andere erschweren und den Fortgang der Operationen so in eine eigensinnige Ordnung bringen. Regelstrukturen, Sprachspiele und semantische Ordnungen sind es auch, die festlegen, wie soziale Systeme mit ihrem kollektiven Wissen umgehen, es erarbeiten, aufbereiten, einsetzen und auch, wie dieses Wissen revidiert und veränderten Umweltbedingungen und -restriktionen angepasst wird. Die Folge ist z. B., dass es innovative und regredierende, risikobereite und risikoscheue, verknöcherte und responsive Sozialsysteme gibt und dass die Differenz in hohem Maße durch die Art der systemisch organisierten Informations- und Wissensverarbeitung bestimmt ist (siehe dazu Systemtheorie II, Kap. 4).

      In der folgenden Tabelle fasse ich die hier hervorgehobenen vier Punkte der Konzeption Etzionis zusammen und beziehe sie einerseits auf die generelle Problemstellung einer Theorie aktiver Gesellschaften, auf welche sie antworten, und andererseits auf die spezifischen Steuerungsprobleme komplexer Sozialsysteme, die uns hier auch weiter beschäftigen werden.

      Mit der Betonung gesellschaftlicher Steuerungskonzeptionen (Lindblom, Etzioni) und der Vereinnahmung von Demokratie als Form der Selbstorganisation komplexer Sozialsysteme habe ich eine – insbesondere von der Ökonomik gepflegte – Tradition überspielt, nach der als Hauptformen der Lösung komplexer Koordinationsaufgaben gewöhnlich nicht Demokratie und Hierarchie kontrastiert werden, sondern Markt und Hierarchie. Für die Wirtschaftswissenschaften mag dies sinnvoll sein, auch wenn Demokratie als Koordinationsmodell dabei herausfällt; für eine gesellschaftstheoretisch orientierte Soziologie ist diese Verkürzung des Interesses von der umfassenderen Form der Demokratie auf den Markt nicht nur widersinnig, sondern auch irreführend. Auf der anderen Seite muss sich allerdings auch eine soziologische Analyse der Steuerungsproblematik mit der Existenz des Marktes als Koordinationsmechanismus auseinandersetzen. Ich werde deshalb in einem Exkurs das Verhältnis von Demokratie- und Marktmodell unter Steuerungsgesichtspunkten beleuchten.

      Tabelle

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