Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke

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Systemtheorie III: Steuerungstheorie - Helmut Willke

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sein über die Steuerungsleistung moderner Demokratien: Sie schieben ein Millionenheer von Arbeitslosen vor sich her und Schuldenberge, die jedes Vorstellungsvermögen übersteigen; sie vergeuden knappe Ressourcen, als gäbe es kein Morgen und vernachlässigen Zukunftsinvestitionen, als gäbe es keine nächsten Generationen. Sie lassen sich von der Rücksicht auf den nächsten Wahltermin beherrschen und missverstehen diese Borniertheit als Herrschaft des Volkes. Sie unterwerfen sich Technologien – Beispiele: Autoverkehr, Energieerzeugung oder das globale Schattenbankensystem –, die den Verwertungsinteressen privater Anleger entsprechen, ohne die sozialen Auswirkungen, Folgekosten, Risiken und mögliche Alternativen ernsthaft zu prüfen.

Kontrolle Konsensschwachstark
schwachpassivübersteuert
starkdahintreibendaktiv

      [43]Die gesellschaftliche Steuerungsleistung politischer Demokratie ist bewundernswert, vergleicht man sie mit derjenigen anderer real existierender politischer Formen. Aber sie ist miserabel, sobald man sich von diesem bequemen Maßstab löst. Gemessen an ihren selbsterzeugten Problemen gleicht politische Demokratie mit fortschreitender Entwicklungsdynamik moderner Gesellschaften einem Kamikazeunternehmen. Solange es möglich war, alle internen Widersprüche politischer Demokratie mit Verweis auf abschreckende Alternativen (und äußere Bedrohung) zu überspielen, war auch die Legitimität des Projekts nahezu selbstverständlich. Aber diese Automatik hat sich mit der Implosion des Sozialismus und der Explosion der sozialen und ökologischen Probleme moderner Demokratien überlebt (Rosenau 1999). Entweder die Demokratie als Steuerungsmodell korrigiert ihren Kurs oder sie gerät in Gefahr abzustürzen.

      Die von Etzioni vorgeschlagene Kurskorrektur geht denn auch genau in Richtung einer verbesserten Fähigkeit zu Selbststeuerung. Sie soll dadurch erreicht werden, dass gegenüber den (weniger defizienten) Mechanismen der Konsensbildung »von unten nach oben« verstärkt Instrumente und Netzwerke der Kontrolle und Steuerung »von oben nach unten« etabliert werden. Etzioni hält es für geboten, die Regierungsfähigkeit demokratischer Systeme zu verbessern, weil ansonsten die in repräsentativen systemischen Kommunikationen formulierten Programme, Projekte oder gar Visionen keine Chance auf eine Realisierung haben. Eine zu stark gewichtete Konsens-Komponente überflutet das System mit Ansprüchen, Anforderungen, partikularen Interessen, Einzelvorhaben, Gruppenegoismen etc., ohne dass komplementäre Möglichkeiten bereitstünden, die Anspruchsinflation durch eine Konfrontation mit den Restriktionen der Durchführung und der Systemverträglichkeit zu dämpfen – Restriktionen wie zum Beispiel Durchsetzungsprobleme, Kosten, Widersprüche zwischen Programmen, mittelfristige Folgen für soziale, sozietale und ökologische Zusammenhänge.

      Selbstverständlich kann eine einfache Vier-Felder Schematik (Etzioni) oder ein Drei-Formen-Modell (Lindblom) nicht die Problematik und die Tragweite einer Revision des Demokratiemodells einfangen. Sie können aber vielversprechende Richtungen aufzeigen und eingefahrene Alternativen – wie die zwischen Markt und Staat, zwischen Konsens und Kontrolle – überwinden[44] helfen. Die wichtigste Leistung beider Modelle scheint mir deshalb darin zu bestehen, Visionen einer »besseren« Demokratie zu entwerfen. Beide Autoren haben ein feines Sensorium für die Steuerungsdefizite sowohl des Marktes als auch des Staates, sowohl der konsensorientierten als auch der kontrollorientierten Modellen der Organisation komplexer Sozialsysteme. Sie beide präsentieren elaborierte Konzeptionen eines dritten Weges, der die humanen und emanzipatorischen Errungenschaften der traditionellen Form von Demokratie bewahrt, zugleich aber ihre Steuerungskapazität verbessern soll. Ohne eine solche Weiterentwicklung, das ist ihre gemeinsame Botschaft, läuft auch das so erfolgreiche Demokratiemodell Gefahr, an der neuen Wirklichkeit hochkomplexer, interdependenter und eigendynamischer Sozialsysteme zu scheitern.

      In neueren Arbeiten verdeutlichen beide Autoren, dass sie eine solche Gefahr als durchaus realistisch ansehen. Als Steuerungstheoretiker müssen sie sich mit der zutiefst paradoxen Erfahrung auseinandersetzen, dass nach einer gewissen Erschütterung der eingeschliffenen Regeln und Selbstverständlichkeiten in den westlichen Demokratien und einem gewissen Aufbruch der demokratischen Verhältnisse Ende der 1960er- und Anfang der 1970er-Jahre in den dann folgenden 20 Jahren eine tiefgreifende Restauration formaler, repräsentativer, von den etablierten Parteien dominierter demokratischer Herrschaft stattfand. Für sich genommen, wäre dies wenig bemerkenswert: democracy as usual. Ihre Brisanz erhält diese Rückkehr zum Bewährten erst im Kontext einer gleichzeitig hereinbrechenden gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik, welche in einem Schwung von »Postmodernisierung« das Gesicht moderner Gesellschaften verändert hat. Neue Technologien, neue Risiken, neue Wissensbestände und Wissensdefizite; Informatisierung, Digitalisierung und Vernetzung; Internationalisierung, Globalisierung und neue Regionalisierung; eine Ausweitung der wechselseitigen Abhängigkeiten und Unkalkulierbarkeiten, ein hitziger werdender Wettbewerb der (westlichen) ökonomischen, sozialpolitischen und technologischen Systeme bei gleichzeitiger intensiver Kooperation und transnationaler Verflechtung etc.; insgesamt eine dramatische Steigerung der Komplexität und Dynamik individueller, sozialer und gesellschaftlicher Kommunikationen in unterschiedlichsten Zeithorizonten und mit nicht mehr beherrschbaren kombinatorischen Folgen.

      All dies überrollt die herkömmlichen Formen und Verfahren der Demokratie. Die Kluften zwischen Politikern und Experten, Repräsentanten und Betroffenen, nationalen Belangen und transnationalen Zwängen, Risikogebern und Risikonehmern, kurzfristigen und mittelfristigen Kalkülen, individuellen und kollektiven Rationalitäten etc. wachsen sich zu potenziellen Sprengsätzen eines Systems aus, von dem nicht mehr klar ist, was es im Innersten noch zusammenhält. Die Demokratie als Steuerungsform gerät[45] zwischen die Mühlsteine einer »postmodernen« Individualisierung einerseits (Welsch 1994, S. 20) und einer technologiegetriebenen Globalisierung andererseits – allerdings ohne dass dies den politischen Akteuren bislang besonders aufgefallen wäre (siehe dazu Willke 1993a).

      Unter diesen Umständen ist es bemerkenswert, dass sowohl Etzioni wie auch Lindblom – wenn auch mit unterschiedlichen Gründen – in neueren Arbeiten von der Idee abrücken, gegenwärtige demokratische Gesellschaften wären kontrollierbar, planbar und in diesem Sinne steuerbar. Sie reagieren auf die angedeuteten Umwälzungen, indem sie aus ihren mehrdimensionalen Modellen demokratischer Steuerung das Element der auf Expertise gestützten Kontrolle und Belehrung nahezu gänzlich verschwinden lassen.

      In einer resümierenden Arbeit über die Schwierigkeiten des Versuchs, Gesellschaften zu verstehen und zu formen, kontrastiert Lindblom (1990) nun die beiden Modelle einer wissenschaftlichen Gesellschaft (»scientific society«) und einer selbststeuernden Gesellschaft (»self-guiding society«). Er kritisiert alle Versuche einer »wissenschaftlichen« Gesellschaftssteuerung, von Platon über Saint-Simon und Marx bis zu modernen Systemanalytikern als illusorisch und irregeleitet, weil Vernunft Macht nicht ersetzen könne. Eine idealtypische Gegenüberstellung beider Modelle ergibt folgenden Befund:

      »The one puts science, including social science, at center stage. In that model, social problem solving, social betterment, or guided social change (regarded as roughly synonymous) calls above all for scientific observation of human social behavior such that ideally humankind discovers the requisites of good people in a good society and, short of the ideal, uses the results of scientific observation to move in the right direction. Social science also of course studies and learns how to go where it has learned society ought to go. In contrast, the model of the self-guiding society brings lay probing of ordinary people and functionaries to center stage, though with a powerful supporting role played by science and social science adapted to the lay role in probing volitions. … The self-guiding society displays much less hostility to power; there, authorized power has a necessary and honorary contribution to make to problem solving, even if it often degenerates into playing politics« (Lindblom 1990, S. 214 u. 222).

      Gegenüber seinen eigenen früheren Vorstellungen einer (auch) präzeptoralen Gesellschaftssteuerung

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