Systemtheorie III: Steuerungstheorie. Helmut Willke
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Sicherlich unterscheiden sich Demokratie und Markt als Steuerungsmodelle für die Koordination komplexer sozialer Systeme. Vor allem, darauf hat mich Fritz Scharpf in einem hilfreichen Kommentar hingewiesen, geht es im Fall des Marktes um die individuelle Verfolgung individueller Zwecke, während Demokratie die individuelle Partizipation an kollektiven Entscheidungen über kollektive Ziele meint. Da mich hier Markt ebenso wie Demokratie vorrangig als Modi der Systemsteuerung interessieren, betone ich eher die Gemeinsamkeiten der Makroeffekte beider Steuerungsformen. Sie liegen in den systemischen Effekten einer dezentralen, verteilten Koordination, die sich in beiden Fällen nicht in bloßer Aggregation erschöpft, sondern in einer Transformation der unterliegenden Rationalität – auch wenn sie sich in beiden Fällen »hinter dem Rücken der Akteure« vollzieht. Bei gutem Verlauf erzeugen beide Koordinationsformen aus der Interaktion rationaler Egoisten dann »public virtues« (genauer: nicht beabsichtigte Kollektivgüter), wenn erwartet werden kann, dass die Interaktionen sich kontinuierlich in eine absehbare Zukunft fortsetzen werden (Axelrod/Keohane 1985).
Gegenüber den durchaus vorhandenen und wichtigen Unterschieden zwischen den Formen Markt und Demokratie hebe ich also hier ihre grundlegenden Affinitäten hervor, ihre funktionalen und strukturellen Übereinstimmungen. Der Markt lässt sich als »demokratisches« Modell eines Güteraustausches (»eine Mark = eine Stimme«) verstehen, der von den Rücksichten auf Stand und Klasse, Moral und Religion, Familie und Freundschaft befreit und nach dem Prinzip »eine Person, eine Stimme« (bei der Bildung des Preises) organisiert ist. Demokratie kann als Markt für politische Herrschaft gelten, [37]strukturiert nach dem Prinzip »eine Person eine Stimme« (bei der Bildung politischer Repräsentation). Auf diesem Markt konkurrieren »politische Unternehmer« um Anteile an der Übertragung öffentlicher Macht (Schumpeter). Tatsächlich hat die letztere Sichtweise zu einer weitverzweigten und in Teilen überzogenen »Ökonomischen Theorie der Demokratie« geführt.
Über diese Ähnlichkeit hinaus scheint mir die wichtigere Affinität von Demokratie und Markt darin zu bestehen, dass es homologe Formen der Koordination sind, die prinzipiell durch Selbstorganisation, Dezentralität, verteilte Intelligenz, weitgehende Autonomie der Teilsysteme, inkrementale Entscheidungsfindung, leichte Reversibilität der getroffenen Entscheidungen und insbesondere durch formale Gleichheit der Entscheider /Nachfrager/ Konsumenten/Wähler gekennzeichnet sind. Charakterisiert sind beide Formen durch Kurzfristigkeit der Entscheidungslogik, Diffusität der Verantwortlichkeit, Anfälligkeit für Stimmungen, Moden, Trends und massenmediale Werbung und insbesondere eine immanente, schwer kontrollierbare Selbstgefährdung durch organisationale Verdichtung und Marktmachtbildung, die das konstituierende Prinzip des freien Wettbewerbs untergräbt.
In Kapitel 3 werden wir feststellen, dass demgegenüber Hierarchie spiegelbildlich auf die jeweils andere Seite der Medaille setzt, also auf Fremdorganisation, Zentralisierung, hierarchisierte Intelligenz, Beschränkung der Autonomie der Teile, Top-down-Planung als Form der Setzung von Entscheidungsprämissen, Blockierung der Reversibilität der Entscheidungen und insbesondere auf die formalisierte Ungleichheit der Mitglieder auf den unterschiedlichen Ebenen der Hierarchie. Entsprechend ist Hierarchie anfällig für ihr »internes« Gegenmodell der informalen Organisation, der Verwischung hierarchischer Grenzen und Stufen, der Aufweichung klarer Verantwortlichkeit in »organisierter Unverantwortung« (Beck) und der Chaotisierung durch Informationsüberflutung.
Spannend wird es erst bei der Frage der Mischformen von Demokratie und Hierarchie, etwa des Einbaus von internen Märkten in (hierarchische) Organisationen oder des Einbaus von kontextueller Steuerung in die Institutionen der Demokratie – also bei der Frage, ob die reinen Typen von Demokratie und Hierarchie, Markt und Organisation sich zu viablen »dritten« Formen der Steuerung hoher organisierter Komplexität fortentwickeln lassen. Ich werde in Kapitel 4 diesen Faden wieder aufnehmen.
Wie schon erwähnt, werde ich in den Kapiteln 5 bis 7 die steuerungstheoretische Bedeutung der Steuerungs- und Transaktionsmedien Macht, Geld und Wissen ausführlich erörtern. Zuvor aber sind mehrere Lücken zu füllen. In einem ersten Schritt möchte ich unterschiedliche Vorschläge für eine Revision des Steuerungsmodells demokratischer Gesellschaften auswerten. Danach präsentiere ich in Kapitel 3 Hierarchie als zweites zentrales Steuerungsmodell [38]für komplexe Sozialsysteme. Auch hier schließt sich ein Abschnitt über die Frage der Revision des Hierarchiemodells an. In Kapitel 4 diskutiere ich im Rahmen des allgemeinen Problems der Koordination die Frage, ob Verhandlungssysteme die gesuchte dritte Form der Steuerung sein könnten.
2.2 Ideen zur Revision der Demokratie als Steuerungsmodell
Wir haben bereits gesehen, dass Lindbloms Vermutung nicht gerade bestätigt worden ist, die Demokratie könne sich zwischen der Skylla des Marktversagens und der Charybdis des Versagens eines autoritären, hierarchischen Staates fortentwickeln zu dem »präzeptoralen System« einer belehrten und lernenden Gesellschaft. Dennoch bleibt seine Idee wertvoll und aufschlussreich. Denn in dieser dritten Form kommt ein alter Traum politischer Erneuerung zum Ausdruck, der Rousseau ebenso bewegt hat wie John Stuart Mill, Hobbes ebenso wie Tocqueville Er wird immer dann besonders virulent, wenn sich einmal mehr gezeigt hat, dass weder Autorität noch Tausch, weder physischer Zwang noch materieller Anreiz genügen, um jene humane Qualität gesellschaftlicher Organisation zu erreichen, die reflektiert, dass sowohl Menschen wie soziale Systeme ihre Kommunikationen auf Expertise und Unterscheidungsvermögen aufbauen und insofern wissensbasiert operieren. Wie Autorität und Tausch ist auch Erziehung als abstraktes Prinzip unbestimmt und lässt sich in ihren Konsequenzen für die Strukturierung politischer Prozesse erst abschätzen, wenn die Kriterien offenliegen, nach denen Belehrung tatsächlich stattfinden oder realisiert werden soll. Präzeptorale Formen reichen von Indoktrination, Gedankenkontrolle und Propaganda über Information, Werbung, Schulung, und Überredung bis zu Ermahnung, Erziehung, Wissensvermittlung und Beratung. Präzeptorale Formen zielen immer auf den »neuen Menschen«; aber die Frage ist, nach welchem Bild dieser neue Mensch geformt sein soll.
Bereits die traditionellen Antworten auf diese Frage spiegeln die notwendige Paradoxie jeder Erziehung, die zuerst darin begründet lag, dass der Erzieher, und sei er Gott, auf der Freiheit zur Perfektion bestehen musste, ohne diesen Zwang zur Freiheit präzeptoral begründen zu können. Heute wird die Paradoxie präzeptoraler Absichten dadurch verschärft, dass auch der Zögling um dieses Dilemma jeder Erziehung wissen kann und deshalb auch Selbstveränderung nur noch Einsicht in die Notwendigkeit operationalisiert. Solange es nur um die Verhältnisse zwischen Personen ging, um Lehrer und Schüler, Aufklärer und Unwissende, Herrscher und Beherrschte, Freie und zu Befreiende, ließ sich die doppelte Paradoxie jeder Erziehung[39] im Wohlgefallen eines Fortschritts zur Mündigkeit auflösen. Aber mit der Verdichtung sozialer Strukturen und gesellschaftlicher Organisiertheit wurde Erziehung bereits im 19. Jahrhundert mit Hegel und Marx zu einer sich selbst dementierenden Aufklärung über Fortschritt, die Theodor Adorno dann auf den Begriff der »negativen Dialektik« brachte. Jedenfalls im Bereich sozialer Relationen und Operationen war Fortschritt nicht mehr von den Kosten des Fortschritts zu trennen und der Weg gesellschaftlicher Selbstbewegung von der Dialektik als Aufklärung zur negativen Dialektik gestaltete sich sehr kurz.
Auch Lindblom gesteht ohne Umschweife zu, dass die Versuche der politisch organisierten gesellschaftlichen Erziehung der Massen in der UdSSR, in China oder Kuba nicht besonders erfolgreich waren. Die Perversion der gemeinten Überzeugungsarbeit scheint bei Lindblom deutlich auf, wenngleich er die zugrundeliegende Paradoxie nicht bemerkt:
»Für die UdSSR, Kuba und China gilt gleicherweise,