Rechtsmedizin. Ingo Wirth
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An einzelnen Geweben und Zellen, die noch nicht abgestorben sind, lassen sich während eines begrenzten Zeitraums durch entsprechende Reize supravitale Reaktionen auslösen. Solche, über das Leben hinausreichenden Reaktionen können in den ersten Stunden nach dem Individualtod zur Todeszeitschätzung herangezogen werden. Bewährt hat sich beispielsweise die Prüfung der Erregbarkeit verschiedener Muskeln.
Abb. 1:
Ablauf des Sterbevorgangs, nach [7]
Das intermediäre Leben ist mit dem Absterben der letzten Körperzelle beendet. Es tritt der biologische Tod (Zelltod) ein, der auch als totaler oder absoluter Tod bezeichnet wird (Abbildung 1).
Die verschiedenen Todesbegriffe könnten zu der Ansicht führen, es gäbe mehrere Tode. Das stimmt nicht. Für jedes Lebewesen gibt es nur einen Tod. Die menschliche Existenz endet mit dem Individualtod.
Anmerkungen
Penning, R. (2006): Rechtsmedizin systematisch. 2. Aufl., Bremen–London–Boston: UNI-MED, S. 21.
Bundesärztekammer (2015): Richtlinie gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TPG für die Regeln zur Feststellung des Todes nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 TPG und die Verfahrensregeln zur Feststellung des endgültigen, nicht behebbaren Ausfalls der Gesamtfunktion des Großhirns, des Kleinhirns und des Hirnstamms nach § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG. Dt. Ärztebl. 112: A-1256.
II. Tod und Leichenuntersuchung › 2. Frühe Leichenveränderungen
2. Frühe Leichenveränderungen
Ganz allgemein sind Leichenveränderungen solche Vorgänge, die nach Eintritt des Todes in Abhängigkeit von äußeren und inneren Einflussfaktoren gesetzmäßig ablaufen. Wesentliche äußere Bedingungen sind Umgebungstemperatur, Luftfeuchtigkeit, Wind sowie Bekleidung und Bedeckung des Körpers. Als innere Faktoren wirken sich vorrangig der Ernährungszustand und die Todesursache aus.
Die frühen Leichenveränderungen sind Totenflecke (Leichenflecke, Livores mortis), Totenstarre (Leichenstarre, Rigor mortis) und Erkalten (Leichenkälte, Algor mortis). Gleichfalls kurz nach dem Tod entstehen durch Verdunstung die Vertrocknungen, die an den Augen, an den Lippen, im Genitalbereich sowie an den Finger- und Zehenspitzen zuerst zu sehen sind.
II. Tod und Leichenuntersuchung › 2. Frühe Leichenveränderungen › 2.1 Totenflecke
2.1 Totenflecke
Die Totenflecke sind nach Eintritt des Todes entstehende Hautverfärbungen. Mit dem Aufhören der Herztätigkeit kommt der Blutkreislauf zum Stillstand. Das Blut sinkt infolge der Schwerkraft in die tiefer gelegenen Körperabschnitte und führt dort zu einer Senkungsblutfülle der Gefäße (Hypostase). Die prall gefüllten und erweiterten kleinen Blutgefäße werden als grau-violette Hautverfärbungen sichtbar. Das sind die Totenflecke, die sich zuerst kleinfleckig zeigen und dann allmählich großflächig auftreten. An den Körperstellen, wo die Leiche aufliegt, werden die Blutgefäße der Haut zusammengedrückt und sind dadurch blutleer. Folglich bleiben die Aufliegestellen von Totenflecken ausgespart und blass.
Die Totenflecke entstehen immer in dem Körperbereich, der dem Boden am nächsten ist (Abbildung 2). Bei Rückenlage finden sich die Totenflecke am Hinterkopf, im Nacken, auf dem Rücken sowie an den seitlichen Partien von Rumpf und Gliedmaßen. Ausgespart bleiben der obere Rückenbereich als sog. Schmetterlingsfigur, das Gesäß, die Waden, die Fersen und die Aufliegestellen beider Arme. Bei Menschen mit schwarzer Hautfarbe sind die Totenflecke nicht sichtbar.
Abb. 2:
Totenflecke in Abhängigkeit von der Körperlage, aus [9]
Liegt die Leiche auf dem Bauch, bilden sich die Totenflecke im Gesicht sowie an der Vorderseite des Rumpfes und der Gliedmaßen aus. Die Aufliegestellen sind entsprechend ausgespart. Bei einer hängenden Leiche entstehen die Totenflecke in der unteren Hälfte des Körpers und der Arme. Oft sind Hände und Füße besonders kräftig verfärbt. Durch Kopftieflage tritt eine intensive Totenfleckbildung im Kopf-Hals-Bereich ein.
Wenn eng anliegende Kleidungsstücke, wie Büstenhalter, Hosengummi oder Gürtel, sowie Kleider- und Hautfalten die Blutgefäße komprimieren, sind Aussparungen der Totenflecke möglich. Am Hals können ein fest sitzender Kragen oder Hautfalten eine Strangmarke vortäuschen. Vereinzelt zeichnen sich sogar Textilgewebsmuster innerhalb der Totenflecke ab. Die ausgesparten Stellen lassen manchmal auch die Beschaffenheit der Fläche erkennen, auf der die Leiche lag. So können Abbilder von Gräsern, Blättern oder Ästen ebenso sichtbar sein wie Abdrücke von Kanten oder Oberflächenstrukturen verschiedener Gegenstände.
Gelegentlich kommt es im Bereich der Senkungsblutfülle zum Platzen kleiner Blutgefäße. Dadurch entstehen dunkelrote bis violette, meist rundliche, punktförmige bis linsengroße Flecke in der Haut. Diese Blutaustritte werden als Vibices bezeichnet. Wie die Entwicklung der Totenflecke ist das Auftreten von Vibices abhängig von der Lage der Leiche. Bei Rückenlage können Blutaustritte im Schulter-Rücken-Bereich und bei Kopftieflage im Gesicht und in den Augen beobachtet werden. Auch unter der Kopfhaut und in den Halsweichteilen entstehen bei Kopftieflage Vibices. Bei Erhängten finden sich derartige Blutaustritte an Unterschenkeln und Füßen.
Solange die Blutsäule in den Gefäßen verschieblich ist, können die Totenflecke durch Umlagern der Leiche wandern. Wenn man die Leiche von der Rücken- in die Bauchlage dreht, bilden sich die Totenflecke an der nun unten befindlichen Körperseite neu aus und die ursprünglichen Flecke verschwinden vollständig. Ebenso lassen sich die Totenflecke mit dem Finger oder mit einem Instrument wegdrücken. Mit zunehmender Zeit nach dem Tod gehen die Umlagerbarkeit und die Wegdrückbarkeit verloren, weil das Blut eindickt und – begünstigt durch eine zunehmende Durchlässigkeit der Blutgefäßwände – auch Blutfarbstoff der zerfallenden roten Blutkörperchen in das Körpergewebe eindringt. Die Totenflecke werden dadurch fixiert und gehen später in die fäulnisbedingten Hautverfärbungen