Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann
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II. Parteifähigkeit
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Das Vertragsverletzungsverfahren ist ein kontradiktorisches Verfahren vor dem EuGH, für das sowohl Kläger als auch Beklagter parteifähig sein müssen.
Nach Art. 258 I AEUV ist die Kommission antragsberechtigt und somit aktiv parteifähig. Nach Art. 259 I AEUV kommt diese Rolle auch den Mitgliedstaaten zu. Passiv parteifähig in Verfahren nach Art. 258 f. AEUV sind ausschließlich die Mitgliedstaaten. Es ist zu beachten, dass nach ständiger Rechtsprechung des EuGH[9] eine umfassende Zurechnung von unionsrechtlichem Fehlverhalten zu einem Mitgliedstaat vorgenommen wird, die sich auf die Handlungen sämtlicher mitgliedstaatlicher Organe, Institutionen und Gebietskörperschaften erstreckt.
Beispiel:
Teilweise sind in Deutschland die Bundesländer für die Umsetzung von Richtlinien verantwortlich. Kommt es zu einer lückenhaften, mangelhaften oder nicht fristgerechten Umsetzung, muss sich die BRD als Gesamtstaat diese Versäumnisse zurechnen lassen. Die Frage der Umsetzung ist allein von nationalrechtlicher Relevanz; in Deutschland sind die Art. 30, 70 ff. GG einschlägig. Hiernach kommt dem Bund keine generelle unionale „Umsetzungskompetenz“ zu. Die Länder werden durch den Grundsatz der Bundestreue zur rechtmäßigen Umsetzung von EU-Richtlinien verpflichtet. Sollte es aufgrund von Umsetzungsverstößen der Bundesländer zu Schadensersatzforderungen oder Strafzahlungen kommen, haften diese innerstaatlich selbst (Art. 104a VI GG).[10] Aus unionsrechtlicher Perspektive muss sich dennoch die BRD, organschaftlich durch die Bundesregierung vertreten, als rechtmäßiger Klagegegner im Vertragsverletzungsverfahren verantworten.
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Der Grundsatz, dass ein organschaftliches Fehlverhalten einem Mitgliedstaat als Ganzem zugerechnet werden kann, gilt auch dann, wenn die einzelnen Staatsgewalten selbst nicht rechtsfähig sind. So kann z.B. die unabhängige Tätigkeit eines mitgliedstaatlichen Gerichts zum Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen diesen Mitgliedstaat werden, wenn das Gericht gegen seine Vorlagepflicht aus Art. 267 III AEUV verstößt. In der Praxis verzichtet die Kommission aufgrund des Grundsatzes der Unabhängigkeit der Justiz in diesen Fällen jedoch häufig auf die Erhebung der Aufsichtsklage.[11]
III. Ordnungsgemäße Durchführung des Vorverfahrens
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Das Vertragsverletzungsverfahren ist nur dann zulässig, wenn dem beklagten Mitgliedstaat zuvor im Rahmen eines Vorverfahrens die Gelegenheit gegeben wurde, sich zu dem Vorwurf, Unionsrecht verletzt zu haben, zu äußern. Souveränitätsschonend soll so auf diplomatischem Weg ein potentielles „Anprangern“ des betreffenden Mitgliedstaats verhindert werden. Insofern bezweckt das Vorverfahren, Konflikte im Vorfeld gerichtlicher Auseinandersetzungen politisch zu lösen, indem der Staat einen eventuellen Verstoß abstellen oder sich gegen den Vorwurf zur Wehr setzen kann. Eine weitere wichtige Funktion des Vorverfahrens ist die Festlegung und Beschränkung des prozessualen Streitgegenstands.[12] Dem Vorverfahren kommt insgesamt also eine Warn- und Filterfunktion zu.[13]
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Noch vor Einleitung des Vorverfahrens der Aufsichtsklage versucht die Kommission, die einzelnen Vorwürfe in einem primärrechtlich nicht vorgesehenen informellen schriftlichen Austausch mit dem zuständigen Ministerium des betreffenden Mitgliedstaats auszudiskutieren. Dieses Pilotverfahren verfolgt das Ziel, die Streitigkeiten über die von der Kommission vermutete Vertragsverletzung mit Hilfe eines vertraulichen Schriftwechsels beizulegen. Ein etwaiges Einlenken der Mitgliedstaaten kann so unter Ausschluss der Öffentlichkeit und insbesondere der Medien stattfinden; dies ist wohl der effizienteste Weg einer außergerichtlichen Einigung. In der Praxis werden häufig sog. Paketsitzungen einberufen, bei denen Beamte der Kommission und des betroffenen Mitgliedstaats gemeinsam nach einer Lösung für das Problem suchen. Das offizielle Vorverfahren wird erst nach Scheitern des Pilotverfahrens eingeleitet.[14]
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Ausnahmsweise entfällt in beihilferechtlichen Streitigkeiten das Vorverfahren nach Art. 108 II UA 2 AEUV, wenn das förmliche Prüfverfahren mit einem Negativbeschluss der Kommission endet. Dann können die Kommission oder von der Beihilfe betroffene Staaten unmittelbar Klage erheben. In diesem Fall beschränkt sich der Klagegegenstand auf die Nichtbefolgung des Kommissionsbeschlusses. Der beklagte Mitgliedstaat kann sich nur damit verteidigen, dass er den Beschluss nicht (mehr) befolgen muss. Eine inhaltliche Rechtmäßigkeitsprüfung des Kommissionsbeschlusses findet nicht statt.[15] Dafür müsste der betroffene Mitgliedstaat eine Nichtigkeitsklage erheben.
1. Das Vorverfahren der Aufsichtsklage
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Das Vorverfahren nach Art. 258 I AEUV sieht zuerst ein Mahnschreiben der Kommission vor, dann die Möglichkeit zur Gegendarstellung durch den betroffenen Mitgliedstaat und daran anschließend die begründete Stellungnahme der Kommission. Mahnschreiben und Stellungnahme sind zwingende Zulässigkeitsvoraussetzungen. Äußert sich der Mitgliedstaat nicht, führt dies hingegen nicht zur Unzulässigkeit der Klage.[16]
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Umstritten ist, ob die Kommission rechtlich verpflichtet ist, auf mutmaßliche mitgliedstaatliche Vertragsverstöße, die ihr bekannt sind oder bekannt gemacht werden, mit der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens zu reagieren. Zur Stärkung des Legalitätsprinzips spricht Einiges dafür, aufgrund des insoweit eindeutigen Wortlauts in Art. 258 I AEUV i.V.m. den imperativ formulierten Pflichten der Kommission als „Hüterin der Verträge“ (Art. 17 EUV) davon auszugehen, dass zumindest die Einleitung des Vorverfahrens rechtlich zwingend erforderlich ist. Im Anschluss „kann“ dann ausweislich Art. 258 II AEUV die Kommission den Gerichtshof anrufen, muss es aber nicht (Opportunitätsprinzip).[17]
a) Das Mahnschreiben der Kommission
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Art. 258 I AEUV verlangt von der Kommission, vor ihrer begründeten Stellungnahme dem betroffenen Mitgliedstaat „Gelegenheit zur Äußerung“ zu geben. Das Mahnschreiben soll die Ausübung des Rechts auf rechtliches Gehör ermöglichen;[18] es zielt weniger auf eine Aufklärung des Sachverhalts ab als darauf, dem zu verklagenden Mitgliedstaat die für seine Verteidigung notwendigen Angaben zu übermitteln.[19] Im Kontext des Vertragsverletzungsverfahrens ist dies ein weiterer Ausdruck der Achtung der mitgliedstaatlichen Souveränität. Außerdem grenzt das Mahnschreiben den erst mit der Klageerhebung entstehenden prozessualen Streitgegenstand vor dem EuGH ein. Das Mahnschreiben enthält zwingend drei Angaben: die schriftliche Mitteilung der Tatsachen, nach denen die Kommission eine Unionsrechtsverletzung begründet, die Ankündigung, dass aufgrund dieser Tatsachen das formale Anhörungsverfahren im Rahmen der Aufsichtsklage eingeleitet wurde, und die Aufforderung, zu den erhobenen Vorwürfen der Kommission innerhalb einer gesetzten Frist Stellung zu beziehen.[20]
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Im Hinblick auf die später erfolgende begründete Stellungnahme kann für das Mahnschreiben wohl noch keine ausführliche Darlegung verlangt werden. Dennoch sollte der Unionsrechtsverstoß nicht nur in tatsächlicher Hinsicht, sondern vor allem in rechtlicher Hinsicht bereits substantiiert vorgetragen werden. Grundsätzlich muss die Kommission zumindest auf die einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts verweisen, die der Mitgliedstaat ihrer Ansicht nach verletzt.[21]
Beispiel: