Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann
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Nach Art. 119 ff. VerfO-EuGH ist das Vertragsverletzungsverfahren als „normale“ Direktklage einzuordnen. Formell muss sie daher von einem Vertreter des Klägers ordnungsgemäß unterzeichnet und schriftlich beim EuGH eingereicht werden. Bleibt der konkrete Vorwurf einer Vertragsverletzung in der Klageschrift unklar, wird dies zu Lasten des Klägers ausgelegt und kann zur Abweisung der Klage führen.
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Die Entscheidung, ob und wann der EuGH angerufen wird, ist grundsätzlich der Kommission oder dem klagenden Mitgliedstaat überlassen. Der frühestmögliche Zeitpunkt für die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens ist demnach das ergebnislose Verstreichen der im Vorverfahren gesetzten Frist. In seltenen Fällen, z.B. wenn die Kommission bzw. der klagende Mitgliedstaat mit der Klageerhebung rechtsmissbräuchlich lange warten, ohne dass es gute Gründe für die Verzögerung gibt, kommt eine Verwirkung des Klagerechts in Betracht.[44]
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Auch in Fall 1 musste die Klage nach Art. 258 AEUV nicht innerhalb einer bestimmten Frist erhoben werden. Sie durfte allerdings auch nicht vor Ablauf der Frist erhoben werden, welche die Kommission in der begründeten Stellungnahme zur Beseitigung des Verstoßes gesetzt hatte. Während die begründete Stellungnahme im Februar 2018 abgegeben wurde, wurde die Klage erst im Mai erhoben, also etwa drei Monate später. Die gesetzte Frist betrug zwei Monate, was auch nicht unangemessen war.
VI. Allgemeines Rechtsschutzbedürfnis
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Da das Vertragsverletzungsverfahren den objektiven Schutz des Unionsrechts und gerade nicht den subjektiven Rechtsschutz des Klägers bezweckt, muss keine Klagebefugnis oder ein besonderes klägerseitiges Rechtsschutzinteresse dargelegt werden. Dies folgt auch aus der Rechtsprechung des EuGH, nach der die Feststellung einer Vertragsverletzung stets auf der rechtlichen und tatsächlichen mitgliedstaatlichen Situation nach Ablauf der im Vorverfahren gesetzten Frist basiert. Spätere Änderungen werden vom EuGH nicht mehr berücksichtigt;[45] ein allgemeines Rechtsschutzbedürfnis kann daher im Nachhinein auch nicht entfallen.[46] Wenn also der Unionsrechtsverstoß bis zum Ablauf der im Vorverfahren gesetzten Frist nicht beseitigt wurde, geht der Gerichtshof von einem Fortbestehen des Rechtsschutzbedürfnisses aus.
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Kein Rechtsschutzbedürfnis besteht hingegen, wenn der betroffene Mitgliedstaat sein Verhalten während der gesetzten Frist ändert. Dies wird teilweise für die Fallgruppen bestritten, in denen eine akute und konkrete Wiederholungsgefahr oder mögliche Haftungsansprüche bestehen.[47] Dem ist jedoch nicht zu folgen. Durch die Beseitigung des Verstoßes hat der betroffene Mitgliedstaat die aus der begründeten Stellungnahme hervorgehenden Verpflichtungen erfüllt. Somit ist eine Klage zwangsläufig unzulässig.[48]
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In Fall 1 beseitigte die BRD den klagegegenständlichen Nationalitätsvorbehalt nach Ablauf der Beseitigungsfrist aber noch vor Klageerhebung. Teilweise wird vertreten, dass damit die Klage unzulässig wird. Ihr Rechtsschutzziel, nämlich die Herstellung unionsrechtmäßigen Verhaltens durch die Mitgliedstaaten, sei erreicht und ein Klagebedürfnis bestehe nicht mehr. Nach dieser Ansicht fehlt es vorliegend an einem Klageerhebungsinteresse. Andererseits hat die Kommission ein solches Interesse, wenn der gerügte Unionsrechtsverstoß Folgewirkungen hat. Die dazu entwickelten Fallgruppen, die Feststellung eines haftungsrechtlich relevanten Tatbestands, Wiederholungsgefahr oder die Klärung von Rechtsfragen, die für die EU und ihr Funktionieren von grundsätzlicher Bedeutung sind, sind vorliegend nicht einschlägig. Nach dieser Ansicht entfällt das Klageerhebungsinteresse der Kommission hinsichtlich des Nationalitätsvorbehalts.
Vorzugswürdig kommt es jedoch allein darauf an, ob die Beseitigungsfrist der Kommission bereits abgelaufen ist. Denn mit seiner Untätigkeit gibt der betroffene Mitgliedstaat endgültig zu erkennen, dass er den Rechtsverstoß nicht einräumt und eine gerichtliche Klärung bevorzugt. Ferner hat es disziplinierende Wirkung, wenn der Mitgliedstaat nicht erst unmittelbar vor oder gar während eines Verfahrens vor dem Gerichtshof den Verstoß abstellen und eine Verurteilung vermeiden kann. Dieser Ansicht ist zugute zu halten, dass sie es konsequent unterlässt, ein ungeschriebenes Rechtsschutzinteresse als Zulässigkeitsvoraussetzung eines objektivrechtlichen Verfahrens einzuführen. Mitgliedstaaten haben während des Vorverfahrens hinreichend Zeit, Vertragsverletzungen abzustellen. Nach Fristablauf sollte ihnen keine weitere Möglichkeit gegeben werden, die Entscheidung der Kommission, Klage zu erheben, zu unterminieren. Vorliegend spricht dafür auch, dass die BRD nicht aufgrund unionsrechtlicher Bedenken den Nationalitätsvorbehalt abgeschafft hat, sondern um den Notarberuf attraktiver zu machen.
§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › C. Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens
C. Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens
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Der EuGH entscheidet auf zulässige Klagen hin, ob der Mitgliedstaat die ihm zur Last gelegte Unionsrechtsverletzung objektiv begangen hat, und er sie innerhalb der im Vorverfahren gesetzten Frist auch nicht revidiert hat.[49] Die Begründetheit des Vertragsverletzungsverfahrens wird hierbei grundsätzlich in einem Dreischritt geprüft. Zunächst müssen die von der Kommission bzw. dem klagenden Mitgliedstaat behaupteten Tatsachen zutreffen. Danach muss geklärt werden, ob die vorgeworfenen Handlungen oder Unterlassungen rechtlich eindeutig einem Mitgliedstaat zuzurechnen sind. Drittens und letztens muss entschieden werden, ob sich hieraus ein Verstoß gegen das Unionsrecht ergibt.
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Die ersten beiden Prüfungspunkte sind – zumal in der Klausursituation – meistens unproblematisch zu bejahen. Soweit sich Zurechnungsproblematiken ergeben, können diese auch im dritten Prüfungspunkt erörtert werden. Denn die materiell-rechtliche Prüfung erlaubt es konkret im Hinblick auf die möglicherweise verletzte Norm des Unionsrechts, Handlungsverbote und Handlungspflichten des beklagten Mitgliedstaates zu untersuchen.
I. Verstoß gegen Unionsrecht
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Wie bereits dargelegt, bildet das gesamte Unionsrecht den Prüfungsmaßstab für das mitgliedstaatliche Fehlverhalten. Dies umfasst Primärrecht und abgeleitetes Recht genauso wie einschlägiges Völkerrecht, sofern letzteres als integraler Bestandteil der Unionsrechtsordnung anzusehen ist.
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Auf die innerstaatliche Rechtsnatur des beanstandeten Verhaltens kommt es nicht an. Es können z.B. sowohl mitgliedstaatliche Gesetze als auch verwaltungsinterne Vorschriften, Realakte oder eine verfestigte und allgemeine Behördenpraxis den Gegenstand einer Klage bilden. Unionsrechtwidrige mitgliedstaatliche Absichten sind noch nicht als Vertragsverstoß anzusehen. Die Kommission kann jedoch eine Warnung aussprechen. Sobald die nationalen Parlamente über einen unionsrechtswidrigen Beschluss abstimmen, kann sich die Kommission allerdings auf das Prinzip der loyalen Zusammenarbeit berufen (Art. 4 III EUV) und Klage erheben.[50]
II. Nachweispflichten/Beweislast
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