Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann
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Nach der Antragstellung muss die Kommission „den beteiligten Staaten (…) Gelegenheit zu schriftlicher und mündlicher Äußerung in einem kontradiktorischen Verfahren“ geben (Art. 259 III AEUV). Während dieses Verfahrens dürfen sich die Mitgliedstaaten nur auf den im Antrag festgelegten Gegenstand beziehen. Die Kommission kann diesen kontradiktorischen Verfahrensteil nach ihrem Ermessen organisieren. Sie kann entscheiden, wie häufig den Mitgliedstaaten das Recht zur schriftlichen und mündlichen Äußerung gegeben wird. Die Kommission muss allerdings für absolute Chancengleichheit sorgen.[35] Ihr kommt in diesem Sinne eine ermessensbegrenzende Schieds- und Vermittlerfunktion zu.[36]
b) Die abschließende Stellungnahme der Kommission
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Sofern der antragstellende Mitgliedstaat nach Abschluss des kontradiktorischen Verfahrens an der Einleitung der Staatenklage festhalten möchte, gibt die Kommission eine abschließende Stellungnahme ab. Nach Ablauf der Drei-Monats-Frist räumt Art. 259 IV AEUV dem antragstellenden Mitgliedstaat allerdings ein von der Stellungnahme der Kommission unabhängiges Klagerecht ein. Im Gegensatz zu Art. 258 AEUV ist die abschließende Stellungnahme also keine Zulässigkeitsvoraussetzung der Klage. Ebenso können mögliche Rechtsverstöße der Kommission, wie z.B. eine Erweiterung des im mitgliedstaatlichen Antrag dargelegten Verfahrensgegenstands, nicht zum Verlust der Klagemöglichkeit eines Mitgliedstaats führen.[37]
IV. Klagegegenstand
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Die gerichtliche Prüfung der Klage nimmt zuerst das Vorverfahren in den Blick: Im ersten Schritt wird ermittelt, ob die Klageschrift über den im Vorverfahren festgelegten Streitgegenstand hinausgeht. Liegt eine solche unzulässige Erweiterung des Streitgegenstands nicht vor, wird im zweiten Schritt geprüft, ob der Klagegegenstand statthaft ist. Dies ist der Fall, wenn der Kläger der Auffassung ist, dass der beklagte Mitgliedstaat gegen eine Verpflichtung aus den Verträgen verstoßen hat (Art. 258 I, Art. 259 I AEUV). Der behauptete Vertragsverstoß kann durch die Handlungen oder Unterlassungen sämtlicher Organe eines Staates herbeigeführt worden sein,[38] die Rechtsprechungstätigkeit eines Gerichts ebenso wie eine verfestigte und allgemeine Verwaltungspraxis der nationalen Behörden.[39]
Eine Ausnahme sieht Art. 126 X AEUV für die Überprüfung der Haushaltsdisziplin der Mitgliedstaaten vor. Die Überprüfung durch die Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 f. AEUV ist danach ausgeschlossen und das in Art. 126 I bis IX AEUV geregelte Verfahren zur Überwachung der Staatsverschuldung tritt an die Stelle der allgemeinen Regelungen, nach denen die Kommission das materielle Unionsrecht durchsetzt und bei mitgliedstaatlichen Verstößen den EuGH anrufen kann.
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Bezugspunkt und Prüfungsmaßstab ist das Unionsrecht in seiner Gesamtheit. Denn weder die Pflicht der Kommission, für die Anwendung der Verträge Sorge zu tragen (Art. 17 I EUV), noch die daraus korrespondieren Pflichten der Mitgliedstaaten (Art. 4 III UA 2 EUV), unterscheiden zwischen Primär-und Sekundärrechtsakten. Zudem ist eine mitgliedstaatliche Verletzung eines Sekundärrechtsakts auch gleichzeitig als ein Verstoß gegen Art. 288 AEUV anzusehen. Mitgliedstaatliche Verstöße gegen völkerrechtliche Verträge die in die (Außen-)Kompetenzen der Union fallen, und somit einen integralen Bestandsteil der Unionsrechtsordnung bilden, können ebenfalls Klagegegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens sein.[40] Des Weiteren werden die allgemeinen Rechtsgrundsätze, und in diesem Zusammenhang insbesondere die europäischen Grundrechte (vgl. Rn. 681 ff.), erfasst.
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Sollte die Kommission bzw. der antragstellende Mitgliedstaat den Vorwurf einer Primärrechtsverletzung erheben, sich der beklagte Mitgliedstaat jedoch in der Sache zutreffend darauf berufen, dass er mit dem gerügten Verhalten seinen EU-sekundärrechtlichen Verpflichtungen nachkommt, ist das Vertragsverletzungsverfahren unzulässig. Eigentlicher Verfahrensgegenstand ist hier nämlich die Primärrechtsverletzung des Sekundärrechtsaktes, weswegen die Kommission bzw. der antragstellende Mitgliedstaat eine Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV (vgl. Rn. 209 ff.) hätte erheben müssen.
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Die umgekehrte Argumentation ist für den beklagten Mitgliedstaat nach Ansicht des EuGH aufgrund von Art. 277 AEUV (vgl. § 12) möglich: Wenn der Mitgliedstaat sich gegen den behaupteten Sekundärrechtsverstoß mit der Argumentation verteidigt, das Sekundärrecht sei primärrechtswidrig und damit nichtig, hätte der Mitgliedstaat eine Nichtigkeitsklage erheben müssen. Denn ein Rechtsakt der Union ist solange als rechtmäßig und wirksam zu behandeln, bis ihn der GHEU für ungültig erklärt hat oder er sich auf sonstige Weise erledigt hat. Dem Mitgliedstaat ist jedoch nach Art. 277 AEUV die Inzidentrüge möglich.[41] In der Literatur wird die Auffassung vertreten, dass die privilegiert nichtigkeitsklageberechtigten Mitgliedstaaten nur inzident rügen können, wenn es ihnen rechtlich oder faktisch unmöglich war, vorher zu klagen.[42] Diese Sichtweise teilt der EuGH wohl nicht.[43] Die Unionsrechtswidrigkeit eines Sekundärrechtsaktes kann also als Rechtfertigungsgrund im Vertragsverletzungsverfahren geltend gemacht werden.
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Für die Bestimmung des Klagegegenstandes in Fall 1 ist entscheidend, dass die Kommission in ihrem Schreiben vom November 2017, mit dem das Vertragsverletzungsverfahren eröffnet wurde, lediglich den Nationalitätsvorbehalt monierte, nicht aber den Tätigkeitsvorbehalt. Dessen Unionsrechtswidrigkeit führte sie erst in der begründeten Stellungnahme auf.
Es trifft zwar zu, dass die Kommission in der Einleitung des Verfahrens frei ist („kann“). Auch folgt aus dem Wortlaut des Art. 258 AEUV nicht eindeutig, dass in die begründete Stellungnahme nicht noch weitere, sachlich verknüpfte Fragen einbezogen werden können. Doch das Vorverfahren bezweckt, dem Mitgliedstaat rechtliches Gehör sowie die Möglichkeit zu gewähren, den Verstoß außergerichtlich zu beheben. Insofern ist der Klagegegenstand doppelt akzessorisch sowohl zu dem Mahnschreiben als auch zu der begründeten Stellungnahme. Auch wenn die im Mahnschreiben erhobenen Vorwürfe nicht vollständig identisch mit denen der Klage sein müssen – rechtliche Argumente und Tatsachenvortrag können später vertieft oder ausformuliert werden –, ist die den Verfahrensgegenstand eingrenzende Funktion des Vorverfahrens in Fall 1 beeinträchtigt, weil die Kommission mit dem „Tätigkeitsvorbehalt“ einen selbstständigen Vertragsverstoß später in das Verfahren einführt. Der Klagegegenstand beschränkt sich daher auf den Vorwurf, der Notarberuf sei in Deutschland deutschen Staatsangehörigen vorbehalten. Der Vorwurf, Notaren seien bestimmte Tätigkeiten vorbehalten, ist hingegen kein zulässiger Verfahrensgegenstand und die Aufsichtsklage insoweit unzulässig.