Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann
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Nach Art. 258 AEUV muss mit dem Mahnschreiben keine Frist zur Stellungnahme gesetzt werden. Damit der betroffene Mitgliedstaat einschätzen kann, wann frühestens mit der Versendung der begründeten Stellungnahme der Kommission zu rechnen ist, sollte das Mahnschreiben dennoch aus Gründen der Rechtssicherheit mit einer Frist versehen werden. In der Praxis beträgt diese Frist üblicherweise zwei Monate. In dieser Zeit kann der Mitgliedstaat sich in einer begründeten Gegendarstellung zu den Vorwürfen der Kommission äußern, muss dies aber nicht tun.
b) Die begründete Stellungnahme der Kommission
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Danach bestimmt die Kommission den weiteren Verfahrensablauf. Überzeugt der betroffene Mitgliedstaat die Kommission mit seiner Gegendarstellung von der Unionsrechtmäßigkeit seiner Maßnahmen, stellt die Kommission das Verfahren ein. Die Kommission beschließt, das Verfahren auszusetzen, wenn der Mitgliedstaat den Vertragsverstoß eingesteht und bereit ist, seine Maßnahmen unverzüglich in Einklang mit dem Unionsrecht zu bringen. Falls der Mitgliedstaat das Mahnschreiben unkommentiert lässt oder die Unionsrechtswidrigkeit seines Verhaltens bestreitet, kann die Kommission eine begründete Stellungnahme abgeben. In der Praxis kommt es nur in ca. 20 Prozent der Verfahren zur Abgabe einer solchen Stellungnahme. 80 Prozent der Verfahren können hingegen im Vorfeld außergerichtlich geregelt werden.[23] Nach der Rechtsprechung des EuGH muss sowohl über die Abgabe der begründeten Stellungnahme als auch über die Klageeinreichung von der Kommission als Kollegialorgan in gemeinschaftlicher Beratung beschlossen werden.[24]
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Die begründete Stellungnahme muss nach Art. 258 II AEUV eine Frist enthalten, innerhalb derer der Mitgliedstaat den Unionsrechtsverstoß abstellen soll. In der Praxis beträgt die Frist ebenfalls zwei Monate; im Einzelfall kann sie allerdings verkürzt oder verlängert werden.[25]
Beispiel:
Im oben genannten Streit zwischen der Kommission und Deutschland über die Einführung der Pkw-Maut hat die Kommission im April 2016 eine begründete Stellungnahme abgegeben. Im Herbst 2016 teilte die Kommission mit, dass ihre grundsätzlichen Bedenken „trotz zahlreicher Kontakte mit den deutschen Behörden“ nicht ausgeräumt wurden. Zunächst beschloss die Kommission daher, Aufsichtsklage zu erheben.[26] Nach weiteren Verhandlungen und Änderungen im Gesetzesentwurf stellte die Kommission das Verfahren allerdings ein. Im Oktober 2017 erhob dagegen Österreich eine noch anhängige Staatenklage gegen die für das Jahr 2019 geplante Einführung der Pkw-Maut in Deutschland.[27]
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Die begründete Stellungnahme stellt die Tatsachen, Rechtsgründe und die Bewertung eines konkreten Unionsrechtsverstoßes zusammenhängend und detailliert dar.[28] Sie präzisiert die bereits im Mahnschreiben zum Ausdruck gekommene Rechtsauffassung der Kommission. Jedoch darf die Kommission die im Mahnschreiben festgelegten Tatbestände weder durch die begründete Stellungnahme noch durch die anschließende Klagerhebung erweitern. Jede Erweiterung des Streitgegenstands bedarf zwingend eines neuen Mahnschreibens; bereits laufende Verfahren dürfen nicht kombiniert abgehandelt werden.[29] Durch dieses „Kontinuitätsgebot“[30] soll sichergestellt werden, dass der betroffene Mitgliedstaat während des Gerichtsverfahrens nur mit Verstößen konfrontiert wird, zu denen er im Vorfeld Stellung beziehen konnte. Für den Fall, dass der Mitgliedstaat sein Verhalten im Vorverfahren teilweise korrigiert, kann die Kommission die tatsächlichen und rechtlichen Vorwürfe einschränken.[31]
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Die von der Kommission in Fall 1 erhobene Aufsichtsklage gegen die BRD stellt ein Vertragsverletzungsverfahren dar, vor dem nach Art. 258 AEUV ein ordnungsgemäßes Vorverfahren durchgeführt werden musste. Dabei ist es unschädlich, dass kein sog. EU-Pilotverfahren durchgeführt wurde. Dieser informelle Dialog zwischen der Kommission und dem betroffenen Mitgliedstaat ist nicht Teil des zwingend durchzuführenden Vorverfahrens, zumal dem Mitgliedstaat darin wiederholt Gelegenheit gegeben wird, den behaupteten Unionsrechtsverstoß abzustellen.
Das Mahnschreiben der Kommission (Art. 258 I Hs. 2 AEUV) ging der BRD im November 2017 zu. Die Kommission teilte der BRD schriftlich mit, dass das Nationalitätserfordernis ihrer Auffassung nach gegen das Unionsrecht verstoße. Der BRD wurde mitgeteilt, dass ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet werde und ihr wurde eine Frist von zwei Monaten zur Stellungnahme gesetzt. Die BRD musste von dieser Gelegenheit keinen Gebrauch machen. Die Kommission gab im Februar 2017, d.h. nach Ablauf der Zwei-Monats-Frist, die in Art. 258 II AEUV vorgesehene begründete Stellungnahme ab, mit der die BRD unter Fristsetzung dazu aufgefordert wurde, den Vertragsverstoß abzustellen. Allerdings ergänzte die Kommission ihren Vortrag um den Hinweis auf den unionsrechtswidrigen Tätigkeitsvorbehalt für Notare. Insoweit lässt sich vertreten, dass bereits das Vorverfahren fehlerhaft war und die Klage damit hinsichtlich des in der begründeten Stellungnahme erstmalig erhobenen Vorwurfs unzulässig ist. Nach anderer Auffassung handelt es sich hierbei um eine Frage des Klagegegenstandes (vgl. Rn. 182 ff.).
Somit wurde grundsätzlich ein ordnungsgemäßes Vorverfahren durchgeführt.
2. Das Vorverfahren der Staatenklage
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Die durch andere Mitgliedstaaten eingeleitete Staatenklage sieht ebenfalls ein Vorverfahren vor. Es lässt sich in zwei Abschnitte einteilen: erstens den Antrag eines Mitgliedstaates und die anschließende Befassung der Kommission im Rahmen eines kontradiktorischen Verfahrens und zweitens die abschließende Stellungnahme der Kommission.[32]
a) Der Antrag eines Mitgliedstaats und das kontradiktorische Verfahren
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Die Einleitung des Verfahrens nach Art. 259 II und IV AEUV erfolgt auf Antrag eines Mitgliedstaats bei der Kommission. Anders als die Kommission sind die Mitgliedstaaten nicht zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens verpflichtet. Entscheiden sich die Mitgliedstaaten zur Antragstellung, kann dies formfrei erfolgen. Burgi weist in diesem Zusammenhang sogar auf die Möglichkeit eines mündlichen Antrags hin, der in der Praxis jedoch unüblich ist.[33] Wie im Mahnschreiben nach Art. 258 AEUV wird bereits im Vorverfahren der Staatenklage der Streitgegenstand eines potentiellen gerichtlichen Verfahrens festgelegt. Somit sollte der mitgliedstaatliche Antrag zumindest den Gegenstand des Vorwurfs, d.h. den Sachverhalt, nach dem sich aus Sicht des antragstellenden Mitgliedstaates die Vertragsverletzung ergibt, und die einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts enthalten. Des Weiteren muss der Zweck des mitgliedstaatlichen Antrags, d.h. die Einleitung der Staatenklage nach Art. 259 AEUV, deutlich erkennbar sein. Der Antrag darf somit nicht als bloße Anregung für die Einleitung einer Aufsichtsklage nach Art. 258 AEUV verstanden werden. Nichtsdestotrotz kann die Kommission, als „Hüterin der Verträge“, zu jeder Zeit ein eigenes Verfahren nach Art. 258 AEUV einleiten. Der antragstellende Mitgliedstaat kann in diesem Fall frei entscheiden, ob er an seinem Antrag festhalten möchte.
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