Europäisches Prozessrecht. Christoph Herrmann
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Die Überprüfung der Vereinbarkeit mitgliedstaatlicher Akte mit dem Unionsrecht kann sowohl von der Kommission im Rahmen einer Aufsichtsklage (Art. 258 AEUV) als auch von einem anderen Mitgliedstaat mittels einer Staatenklage (Art. 259 AEUV) eingeleitet werden. Die Verträge verweisen an weiteren Stellen explizit auf diese beiden Klagemöglichkeiten (Art. 108 II UA 2, Art. 114 IX, Art. 348 II AEUV).
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Streiten sich EU-Mitgliedstaaten über ihre unionsrechtlichen Rechte und Pflichten, sind sie nach Art. 344 AEUV verpflichtet, auf das Vertragsverletzungsverfahren zurückzugreifen. Gleichwohl ist die Bedeutung der Staatenklage in der Praxis äußerst gering. Der EuGH hat bis Ende 2017 in lediglich vier Entscheidungen über Staatenklagen nach Art. 259 AEUV geurteilt.[3]
Beispiel:
Der ungarische Präsident wurde von den slowakischen Behörden daran gehindert, zu einer Feier zum Gedenken an den Gründer und ersten König Ungarns in die Slowakei einzureisen und dort eine Rede zu halten. Da am selben Jahrestag allerdings die Truppen des Warschauer Pakts unter Beteiligung der ungarischen Streitkräfte in die damalige Tschechoslowakei einmarschiert waren, hielt die slowakische Regierung die Einreise des ungarischen Präsidenten für politisch unerwünscht. Ungarn leitete daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren mit der Begründung ein, das Einreiseverbot verstoße gegen die persönliche Freizügigkeit der Unionsbürger (Art. 21 AEUV). Beschränkungen der Freizügigkeit sind laut RL 2004/38 nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit zu rechtfertigen. Ein solches Sicherheitsrisiko lag nach der Auffassung Ungarns nicht vor.
Der EuGH stellte fest, dass der Präsident als ungarischer Staatsangehöriger den Status eines Unionsbürgers genieße. Der Status des Staatsoberhaupts weise jedoch völkerrechtliche Besonderheiten auf: Handlungen eines Staatsoberhaupts unterlägen dem völkerrechtlichen Recht der diplomatischen Beziehungen. Hieraus folge, dass es das souveräne Recht eines jeden Staates sei, selbst zu entscheiden, welche Staatsoberhäupter das Land bereisen dürfen. Ein Unionsbürger, der das Amt eines Staatsoberhauptes bekleide, müsse folglich die aus dem Völkergewohnheitsrecht abzuleitenden Einschränkungen des ihm in Art. 21 AEUV gewährten Freizügigkeitsrechts hinnehmen.[4]
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Die Kommission hingegen macht von ihrem Aufsichtsklagerecht durchaus Gebrauch. Sie kommt damit ihren primärrechtlichen Verpflichtungen nach, denn ihr fällt
„kraft ihres Amtes im allgemeinen Interesse der [Union] die Aufgabe zu, die Ausführung des Vertrages und der auf seiner Grundlage von den Organen erlassenen Vorschriften durch die Mitgliedstaaten zu überwachen und damit etwaige Verstöße gegen die sich hieraus ergebenen Verpflichtungen feststellen zu lassen, damit sie abgestellt werden.“[5]
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Diese Aufgabe der Kommission ist in Art. 17 I EUV vertraglich niedergelegt, sodass die Aufsichtsklage nach Art. 258 AEUV als besondere Ausprägung der in Art. 17 EUV festgelegten Pflichten der Kommission zu verstehen ist.[6]
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Da Aufsichtsklage und Staatenklage selbstständig nebeneinander stehen, kann derselbe Sachverhalt zur Erhebung einer Staaten- und einer Aufsichtsklage führen. Der Eingang einer mitgliedstaatlichen Staatenklage hindert die Kommission nicht an der gerichtlichen Einleitung einer Aufsichtsklage aufgrund desselben mitgliedstaatlichen Vertragsverstoßes. Zudem sind auf Grund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts auch mitgliedstaatliche Gerichte dazu angehalten, unionsrechtswidrige innerstaatliche Rechtsakte zu verwerfen. Eine Klage vor der nationalen Gerichtbarkeit schließt die direkte Einleitung des Vertragsverletzungsverfahrens ebenso wenig aus. Im Gegenzug sperrt das Unionsrecht zu keinem Zeitpunkt die Einleitung eines nationalen Verfahrens; bei unionsrechtlichen Gültigkeitsfragen kann das mitgliedstaatliche Gericht diese nach Art. 267 AEUV vorlegen (vgl. Rn. 395).[7]
§ 4 Das Vertragsverletzungsverfahren › B. Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens
B. Zulässigkeit des Vertragsverletzungsverfahrens
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Fall 1:[8]
Im August 2017 nahm die Europäische Kommission eine Untersuchung wegen eines möglichen Verstoßes der Bundesrepublik Deutschland (BRD) gegen die Verpflichtungen aus den Verträgen auf. Dabei stellte sie fest, dass der Zugang zum Beruf des Notars in Deutschland nur deutschen Staatsangehörigen eröffnet ist (sog. Nationalitätsvorbehalt). Dies verstieß nach Ansicht der Kommission gegen den Diskriminierungsschutz der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV).
Ohne zuvor den Dialog mit der BRD zu suchen, forderte die Kommission die BRD im November 2017 auf, sich zu dem vorgeworfenen Verstoß innerhalb einer Frist von zwei Monaten zu äußern. Dabei legte die Kommission schriftlich die Tatsachen und wesentlichen Rechtsgründe dar, die aus ihrer Sicht zu einer Verletzung der genannten Vorschriften führen. Ferner teilte sie mit, dass mit diesem Schreiben ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die BRD eingeleitet werde. Die BRD reagierte auf das Kommissionsschreiben nicht.
Im Februar 2018 gab die Kommission eine mit Gründen versehene Stellungnahme ab. Dabei wiederholte sie zunächst, dass der Nationalitätsvorbehalt einen Verstoß gegen den AEUV darstelle. Ferner führte sie erstmals aus, dass auch der sog. Tätigkeitsvorbehalt, d.h. der Vorbehalt der in der Bundesnotarordnung geregelten Tätigkeiten zu Gunsten von Notaren, einen Verstoß gegen den AEUV darstelle. Die Kommission setzte der BRD in ihrer Stellungnahme eine Frist von zwei Monaten zur Beseitigung dieser beiden Verstöße. Die BRD reagierte abermals nicht, informierte die Kommission jedoch Anfang Mai davon, dass durch eine lange geplante und zum 1.5.2018 in Kraft getretene Gesetzesnovelle des Notarwesens der Nationalitätsvorbehalt entfallen sei. Mit der Gesetzesänderung sollte der Notarberuf attraktiver gemacht werden. Dennoch erhob die Kommission Mitte Mai 2017 Klage vor dem Gerichtshof der Europäischen Union.
Im Laufe des Verfahrens erwiderte die BRD auf die Klage der Kommission, dass der Vorwurf hinsichtlich des Tätigkeitsvorbehaltes schon deswegen unzulässig sei, weil er erst in der begründeten Stellungnahme erhoben worden sei. Die BRD habe sich zuvor dazu überhaupt nicht äußern können, zumal die Kommission auch treuwidrig von der Durchführung des üblichen Pilotverfahrens abgesehen hätte. Der Nationalitätsvorbehalt sei mittlerweile ohnehin nur noch Rechtsgeschichte.
Die Kommission hielt in ihrer weiteren Erwiderung entgegen, dass es allein in der Entscheidungsbefugnis der Kommission liege, wann und wie sie ein Vertragsverletzungsverfahren führe. Geklagt werden könne auch ohne vorhergehendes Pilotverfahren. Jedenfalls habe die BRD genügend Gelegenheit, sich vor dem Gerichtshof zu dem Vorwurf hinsichlich des Tätigkeitsvorbehalts zu äußern.
Ist die von der Kommission gegen die BRD erhobene Klage zulässig?
I. Zuständigkeit
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Das Vertragsverletzungsverfahren vor dem GHEU (Art. 19 III lit. a) EUV, Art. 258 f. AEUV) fällt organintern in die ausschließliche Zuständigkeit des EuGH. Art. 256 I UA 1 AEUV i.V.m. Art. 51 GHEU-Satzung schließt eine Übertragung der Zuständigkeit auf das EuG aus. Darin kommt der verfassungsrechtliche Charakter der im föderalen Verhältnis zwischen der EU und den Mitgliedstaaten oder den Mitgliedstaaten untereinander wurzelnden