Verfassungsprozessrecht. Christian Hillgruber
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Verfassungsprozessrecht - Christian Hillgruber страница 14
8
Das BVerfG hat sich über seine unbestrittene Gerichtsqualität hinaus in der berühmten „Status-Denkschrift“ vom 27. Juni 1952[6] selbst den Status eines Verfassungsorgans attestiert[7]. Davon geht implizit auch das BVerfGG aus, wenn es ihm in § 1 Abs. 1 Selbstständigkeit und Unabhängigkeit gegenüber „allen übrigen Verfassungsorganen“ zuschreibt[8]. Auch der verfassungsändernde Gesetzgeber hat die vom BVerfG erstrittene Stellung des BVerfG anerkannt, wie aus der amtlichen Begründung zur Einführung des Art. 115g GG hervorgeht, der jedwede Beeinträchtigung der „verfassungsmäßige[n] Stellung“ des BVerfG im Verteidigungsfall untersagt[9]. Die Status-Denkschrift hat mit der Rolle des BVerfG als „oberstem Hüter der Verfassung“ argumentiert. Das BVerfG sei insoweit „nach Wortlaut und Sinn des Grundgesetzes und des Gesetzes über das BVerfG zugleich ein mit höchster Autorität ausgestattetes Verfassungsorgan, in eine ganz andere Ebene als alle anderen Gerichte gerückt“. Ausdruck des besonderen organisatorischen Status des BVerfG sind seine – seit 1986 ausdrücklich anerkannte (vgl § 1 Abs. 3 BVerfGG) – Geschäftsordnungsautonomie, seine Ressortfreiheit, die herausgehobene protokollarische Stellung seines Präsidenten sowie schließlich sein Recht auf Beteiligung bei der Aufstellung des Entwurfs des Bundeshaushaltsplans durch Voranschläge des Präsidenten (vgl § 28 Abs. 3 BHO) und auf autonome Bewirtschaftung der bewilligten und in einem eigenen Einzelplan ausgewiesenen Haushaltsmittel.
9
Ob das BVerfG aufgrund dieses Status auf einer Ebene mit den anderen, von ihm kontrollierten Verfassungsorganen oder im Hinblick auf seine Kontrollbefugnis gar über diesen Staatsorganen steht[10], ist eine Frage der Definition. Entscheidend ist, dass die Redeweise vom BVerfG als Verfassungsorgan nichts anderes bedeuten kann als den Versuch, die dem BVerfG zugewiesenen Kompetenzen auf einen als Abbreviatur fungierenden Begriff zu bringen[11]. Dagegen dürfen aus dem so, also induktiv gewonnenen Begriff weitere Rechtsfolgen, insbesondere zusätzliche Kompetenzen des BVerfG nicht deduziert werden. Eine solche Ableitung wäre nichts anderes als unzulässige und irreführende Begriffsjurisprudenz.
§ 1 Die Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge der Bundesrepublik Deutschland › III. Das Bundesverfassungsgericht als maßgeblicher Letztinterpret des Grundgesetzes: Hüter oder Herr der Verfassung?
III. Das Bundesverfassungsgericht als maßgeblicher Letztinterpret des Grundgesetzes: Hüter oder Herr der Verfassung?
10
Mit dem BVerfG ist ein organisatorisch selbstständiges Gericht errichtet worden, welches die Verfassung letztentscheidend mit Verbindlichkeitsanspruch interpretiert. Das BVerfG nimmt diese Kompetenz wie selbstverständlich in Anspruch (BVerfGE 108, 282, 295): „Entsprechend seiner Aufgabe, das Verfassungsrecht zu bewahren, zu entwickeln und fortzubilden […, hat es] selbst letztverbindlich über dessen Auslegung und Anwendung zu entscheiden.“ Allerdings tritt diese zentrale Funktion des BVerfG nicht unmittelbar in Erscheinung; denn das BVerfG entscheidet in erster Linie die ihm zur Entscheidung zugewiesenen, konkreten Verfassungsstreitigkeiten; es stellt die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit des geprüften Rechtsakts mit der Verfassung fest und zieht daraus gegebenenfalls noch weitere Konsequenzen, insbesondere erklärt es mit dem GG unvereinbar befundene Gesetze und sonstige Rechtsnormen für nichtig (§§ 78 S. 1, 82 Abs. 1, 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG) und hebt verfassungswidrige Verwaltungsakte und Gerichtsentscheidungen auf (§ 95 Abs. 2 BVerfGG). Die maßgebliche Interpretation des Grundgesetzes bildet für diesen, sich im Tenor der Entscheidung widerspiegelnden Entscheidungsinhalt lediglich die präjudizielle Vorfrage.
11
Das BVerfG betreibt also keine prinzipale Verfassungsauslegung, erklärt nicht abstrakt, was Inhalt der Verfassung ist. Das gilt auch für das Organstreitverfahren ungeachtet der missverständlichen Formulierung des Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG. Die Streitigkeit zwischen obersten Bundesorganen oder anderen Beteiligten über den Umfang der Rechte und Pflichten, die ihnen das GG einräumt, bildet nicht lediglich den „Anlass“ für die Auslegung des Grundgesetzes, sondern den eigentlichen Prüfungsgegenstand; dementsprechend ordnet § 67 BVerfGG im Hinblick auf den Entscheidungsinhalt an, dass das BVerfG in seiner Entscheidung feststellt, ob die beanstandete Maßnahme oder Unterlassung des Antragsgegners gegen eine Bestimmung des Grundgesetzes verstößt (Satz 1). Das BVerfG kann in der Entscheidungsformel zugleich eine für die Auslegung der Bestimmung des Grundgesetzes erhebliche Rechtsfrage entscheiden, von der die Feststellung gemäß Satz 1 abhängt (§ 67 S. 3 BVerfGG). Aber auch diese Rechtsfrage, über die das BVerfG hier mitentscheidet, ist mit der Interpretation des Grundgesetzes, die das BVerfG zur Beantwortung dieser Frage vornimmt, nicht identisch (s. dazu Rn 418 ff). Nichts anderes gilt für die Rechtsfragen, über die das BVerfG in den Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 und 100 Abs. 3 GG „ausschließlich“ entscheidet (vgl §§ 81, 85 Abs. 3 BVerfGG). Von der formellen und materiellen Rechtskraft, die den nicht mehr anfechtbaren Entscheidungen des BVerfG wie allen letztinstanzlichen Gerichtsentscheidungen zukommt, wird die Auslegung des Grundgesetzes, die das BVerfG vornimmt, als vorgreifliche Frage daher nicht erfasst.
12
Die Verbindlichkeit der inzidenten Verfassungsauslegung durch das BVerfG folgt denn auch nicht aus der Verfassung selbst; nach Art. 20 Abs. 3 GG sind die gesetzgebende, die vollziehende und die rechtsprechende Gewalt nur an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden, nicht aber an die Auslegung dieser Ordnung durch das BVerfG (vgl BVerfGE 77, 84, 103 f). Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 93 Abs. 1 GG. Zwar weist diese Vorschrift dem BVerfG bestimmte Entscheidungszuständigkeiten zu, und wenn das BVerfG „entscheiden“ soll, dann impliziert die Anerkennung dieser Entscheidungsgewalt auch deren Verbindlichkeitsanspruch. Dieser erfasst jedoch nur die Entscheidung als solche, dh den in Rechtskraft erwachsenden Tenor der Entscheidung, nicht aber dafür vorgreifliche Verfassungsauslegungen.
13
Die Verbindlichkeit der vom BVerfG vorgenommenen Auslegung des Grundgesetzes ergibt sich vielmehr erst aus § 31 Abs. 1 BVerfGG, und auch daraus nur dann, wenn man an der Bindungswirkung der Entscheidung die sie tragenden Gründe (rationes decidendi), soweit sie Ausführungen zur Auslegung der Verfassung enthalten, teilhaben lässt[12]. Diese Deutung des § 31 Abs. 1 BVerfGG entspricht dem Selbstverständnis des BVerfG[13], das sich für den „maßgeblichen Interpreten und Hüter der Verfassung“, für die „verbindliche Instanz in Verfassungsfragen“ hält (BVerfGE 40, 88, 93 f; 112, 268, 277; 150, 204, 227). Darin dürfte – entgegen kritischen Stimmen in der Literatur[14] – wohl auch der eigentliche Sinngehalt des § 31 Abs. 1 BVerfGG liegen, über die personelle Geltungserstreckung der Rechtskraft der Entscheidungen des BVerfG auf alle staatlichen Organe, auch alle Behörden und Gerichte, hinaus[15]. Handeln Letztere dieser einfachgesetzlich angeordneten Bindungswirkung zuwider, dh setzen sie sich darüber hinweg, so liegt in diesem Verstoß gegen den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bzw gegen die Gesetzesbindung der rechtsprechenden Gewalt zugleich ein Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG, der vom BVerfG auf Verfassungsbeschwerde hin, die auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützt werden kann, durch Aufhebung des Verwaltungsaktes bzw der Gerichtsentscheidung sanktioniert wird (BVerfGE 115, 97, 108; BVerfGK 7, 229, 236). Dagegen kann sich der Gesetzgeber der in § 31 Abs. 1 BVerfGG für ihn liegenden Selbstbindung durch einen gegenläufigen Gesetzgebungsakt auch wieder entledigen.
14
Dass letztlich nur das BVerfG, genauer: der Senat, der entschieden hat, wissen kann, welches die