Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte. Alexander Gallus

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Revolutionäre Aufbrüche  und intellektuelle Sehnsüchte - Alexander Gallus

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      Um diese zu erfassen, ist das weitere Hineinhören in zeitgenössische, prinzipiell ergebnisoffene Selbstverständigungsdiskurse wichtig. Eine solche Revolutionsbetrachtung fasst die turbulente Phase des Übergangs 1918/19 als eine Orientierungskrise auf, die zu einer Vielzahl von Gegenwartsdiagnosen und zeitgenössischen Kommentaren herausforderte. In seiner ebenso konzisen wie ausgezeichneten Revolutionsgeschichte aus dem Jahr 2009 bemerkte Volker Ullrich zu Recht: „Die Historiker haben solchen zeitgenössischen Berichten aus der Umbruchzeit bislang zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.“78

      Die Erwartungen, Erfahrungen und Vorstellungswelten der historischen Akteure – die „Kronzeugen“ dieses Textes von Kessler über Kollwitz zu Troeltsch und Wolff dienten als punktuelle Belege – besaßen historische Prägekraft. Es war eben mit den Worten des großen Bielefelder Begriffshistorikers Reinhart Koselleck zunächst die „vergangene Zukunft“ der damaligen Zeitgenossen.79 Jene Zeitspanne, als in Deutschland Revolution war, präsentiert sich dann als eine Phase aufregender, ungewisser Entwicklung, die auch Paradoxien zu erfassen vermag, wie sie sich etwa im Verhältnis zwischen Alltagswelt und politischer Gewalt auftaten.

      Nur kurze Zeit nach den Unruhen des Januars wunderte sich Troeltsch beispielsweise, mit wieviel Gleichmut das Berliner Großstadtleben trotz blutiger Kämpfe und omnipräsentem Gewehrfeuer voranschritt: Not und Unsicherheit herrschten, notierte er ein wenig konsterniert, und doch spielten die Theater unverdrossen weiter und wurde allerorten getanzt.80 Nur zwei Tage nach der Ermordung Luxemburgs und Liebknechts machte Harry Graf Kessler ganz ähnliche Beobachtungen. Er verglich Berlin, so ist seinem Tagebuch vom 17. Januar 1919 zu entnehmen, mit einem Elefanten, der mit dem Taschenmesser gestochen wurde, sich kurz schüttelte, um schließlich unbeeindruckt weiterzumarschieren.81

      Die Revolution im Speziellen und Weimar im Allgemeinen nicht quasi-pathologisch zu untersuchen, sondern als offene historische Situation voller Lebendigkeit und Risiken gleichermaßen, die von den Zeitgenossen verlangte, Widersprüche und Widrigkeiten auszuhalten, könnte uns helfen in Zeiten, die selbst vom Gefühl neuer Krisenhaftigkeit gekennzeichnet sind. Das Zeitklima unserer Gegenwart kommt der Wiederentdeckung der Revolution von 1918/19 in jedem Fall zugute, sollte uns aber nicht dazu verführen, simple Analogien zu ziehen und allerorten Wiederholungsszenarien von Weimarer Verhältnissen zu erkennen.82

      Unsere Aufmerksamkeit für 1918/19 als zentrale, zukunftsweisende Zäsur, die nicht nur im Schatten von 1914, 1917 und 1933 stehen sollte, mag dies indes nicht schmälern. Diese Jahreswende erlebte – ein letztes Mal in Troeltschs Worten – die „erste durchdringende Revolution großen Stils in Deutschland überhaupt,“83 weil mit ihr ungeachtet aller Mängel und Versäumnisse ein politischer Systemwechsel hin zu einer modernen demokratischen Staatsform vollzogen wurde. In der langen Perspektive signalisierte dieser – wie wir heute wissen – also eher einen Anfang als ein Ende.84 Um allerdings nicht zum Schluss in den Jubel eines überhöhten Demokratiebegründungsnarrativs zu verfallen, ist das erfahrungsgeschichtliche Korrektiv der Subjektivierung nochmals hochzuhalten. Dann entgehen wir der Gefahr, Geschichte vom Ziel her – ob des Scheiterns oder der Ankunft – zu schreiben. Der zeitgenössische Blick verkürzt die Sichtweite, hält die Geschichte offen und unruhig. Davon können nicht zuletzt auch wir berufsbedingt zur nachträglichen Besserwisserei neigenden Historiker einiges lernen.

       2.

       Zum historischen Ort der deutschen Revolution von 1918/19

      Ein Wendepunkt in der Gewaltgeschichte?

       I. Einleitung: eine Revolution zwischen Debatte, Desinteresse – und neuer Deutung?

      Jahrzehntelang war es in der öffentlichen Erinnerung still geworden rund um das Thema der Novemberrevolution, und auch die Forschung über die Umbrüche von 1918/19 schien ins Stocken geraten zu sein. Eine Erklärung für diese Aufmerksamkeitsflaute bot der Spiegel anlässlich des Hundertjahresjubiläums der Ereignisse im Herbst 2018: die Scheu der Deutschen vor Revolutionen ganz allgemein. Sie litten an einer regelrechten Revolutionsaversion. Das Hamburger Wochenmagazin setzte dieses Thema an prominente Stelle und widmete ihm die Titelgeschichte „Revolution. Warum die Deutschen so oft scheitern“.1 In gewisser Weise knüpfte es damit an eine Würdigung an, die Joachim C. Fest schon fünfzig Jahre zuvor an derselben Stelle in einem ebenfalls sehr grundsätzlichen Bericht über die revolutionären Misserfolge der Deutschen formuliert hatte: „Das deutsche Gedächtnis kennt weder geköpfte Könige noch erschlagene Gauleiter, keine Straßenschlachten, keinen Bastillesturm oder siegreich durchgestandenen Verfassungskonflikt. Eher geniert bewahrt es die Erinnerung an einige halbherzige Erhebungen und einen selbstquälerisch wankelmütigen Widerstand, alles in Jammer und Bitternis endend. Nicht einmal der Rückblick auf große Niederlagen ist ihm vergönnt, es kennt nur den Katzenjammer kläglichen Scheiterns.“2

      Gerade im Epochenjahr 1968 präsentierte sich die Streitgeschichte rund um die seit jeher „umkämpfte Revolution“ von 1918/19 besonders vital.3 Das historische Szenario traf im Verlauf der dynamischen 1960er Jahre auf ein gewandeltes Meinungsklima, das Räteideen und der Suche nach Alternativen zwischen den großen gesellschaftlich-politischen Systemblöcken bis in die 1970er Jahre hinein eine vermehrte Aufmerksamkeit sichern sollte. Der „Republikanische Club Westberlin“, der führende Köpfe der Außerparlamentarischen Opposition versammelte, beschäftigte sich besonders intensiv mit der „revolutionären Situation 1918“ und erörterte die Möglichkeit, ein halbes Jahrhundert später daran anzuknüpfen. Es galt, so hieß es damals, die „Ausgangslage der Novemberrevolution“ genau zu studieren, um daraus Lehren für eine erneut in Aufruhr geratene Gegenwart zu ziehen und nicht „alle grundlegenden strategischen und konzeptionellen Fragen kurzfristigen Tagesstrategien unterzuordnen oder ganz zu opfern“.4 Dieses Bestreben fügte sich 1968 gut in die „Winterkampagne“ des Clubs ein: „50 Jahre Konterrevolution sind genug“.5 Ernst Fraenkel, der große Pluralismus-Theoretiker und nach seiner Rückkehr aus dem amerikanischen Exil an der Freien Universität Berlin lehrende Politikwissenschaftler, war angesichts solcher Tendenzen beunruhigt und warnte vor einem neuen „Rätemythos“ – auch deswegen, weil er wieder in Mode geratenen Ideen eines Dritten Wegs zwischen Kapitalismus und Kommunismus und einer alternativen sozialistischen Demokratie nichts abgewinnen konnte, sie sogar für demokratiegefährdend hielt.6

      Wie wir wissen – dies mochte auch Fraenkels Sorge um den Bestand des westlich-pluralistischen Demokratiemodells abmildern – blieb es bei Gedankenspielen. Sie fügten sich in die Debatte rund um die Novemberrevolution, wie sie bis in die 1980er Jahre hinein geführt wurde: als Geschichte im Optativ. Mehr Demokratisierung und weniger verpasste Chancen seien in einer Zeit möglich gewesen, als führende Politiker ihre Handlungsmöglichkeiten nur unzureichend genutzt hätten, so lautete eine der regelmäßig vorgetragenen Thesen.7 Zudem gelangte der Verratsvorwurf gegenüber der Mehrheitssozialdemokratie zu großer Prominenz, verfocht diese These publikumswirksam doch der wortgewandte, geschickt argumentierende historische Publizist Sebastian Haffner. Sein 1969 erstmals erschienenes Buch Die verratene Revolution, das sich zu einem Langzeitbestseller (später unter dem nicht mehr thesenhaften, einen nüchternen Tatsachenbericht suggerierenden Titel Die Deutsche Revolution 1918/19) entwickelte, war eine fulminante Abrechnung mit Friedrich Ebert und den führenden Mehrheitssozialdemokraten, die – statt sie zum Erfolg zu führen – die Revolution niedergeschlagen hätten.8

      Der Streit über den historischen Ort der Novemberrevolution orientierte sich zunehmend weniger an neuen Quellen und Erkenntnissen als an miteinander konkurrierenden normativen Grundannahmen. Zu dieser Form des historischen Wunschkonzerts bemerkte Conan Fischer später leicht süffisant, es sei 1918/19 vor allem nicht jene Revolution gewesen, die sich nachgeborene

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