Revolutionäre Aufbrüche und intellektuelle Sehnsüchte. Alexander Gallus

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Revolutionäre Aufbrüche  und intellektuelle Sehnsüchte - Alexander Gallus

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und Verfassungswirklichkeit auseinanderklaffen konnten. Die Parteien der Weimarer Republik taten sich schwer damit, die zentrale Konfliktlinie eines parlamentarischen Systems, die zwischen Regierungsmehrheit und oppositioneller Minderheit verläuft, zu verinnerlichen. Vielmehr klammerten sie sich an die alte Trennlinie der konstitutionellen Monarchie – zwischen der Regierung auf der einen Seite und dem Reichstag auf der anderen.

      Der Systemwechsel war mithin vollzogen, ohne dass damit die Funktionslogik des neuen parlamentarisch-demokratischen Modus sogleich verinnerlicht worden wäre. Dies bedurfte der Zeit und eines Lernprozesses, der zwischenzeitlich durchaus erkennbare Fortschritte verzeichnete.68 Dies mag auch erklären helfen, weshalb in Deutschland – anders als in Italien – die Demokratie ungeachtet der schwerwiegenden Krisen bis in den Herbst 1923 hinein eine ganze Weile bestehen blieb. Und sicherlich ist es gerechtfertigt, ihrer weiteren Erprobung in Deutschland frei von einem pessimistischen Narrativ einige Aufmerksamkeit zu schenken. Gegen die These vom unwiderstehlichen Sog des Autoritär-Totalitären während der Zwischenkriegszeit, worin der Demokratieentwicklung wenig Eigenständigkeit, sondern vielmehr ein eher reaktiver Überlebenskampf als Grundmotiv zugewiesen wird,69 stehen solche Initiativen, die die Demokratie als Idee wie Handlungskategorie in den Mittelpunkt rücken. Sie sei die „fragile Normalität“ gewesen, die in eine „Hegemoniekrise“ geraten konnte und, vor allem ab der Weltwirtschaftskrise in den Jahren ab 1929, auch geriet.70 Es gilt mithin, die Weimarer Demokratie wie die Demokratien der Zwischenkriegszeit allgemein erst noch zu historisieren: jenseits von statischen Typologien und deterministischen Verfallstheorien. Ein solches Bestreben, das sei an dieser Stelle betont, lässt sich gut mit der Systemwechsel-Perspektive wie mit dem erfahrungsgeschichtlichen Ansatz einer Subjektivierung der Wahrnehmungswelten kombinieren.

       III. Bilanz eines erfolgreichen, aber vielgestaltigen und widersprüchlichen Systemwechsels

      Von Anfang an blieb der Systemwechsel von 1918/19 eine ungeliebte Revolution. Es ist daher im Grunde erstaunlich, dass eine Revolution, die von allen politischen Richtungen – wenn auch aus ganz unterschiedlichen Motiven – abgelehnt wurde, letztlich insoweit erfolgreich war, als es ihr gelang, Deutschland erstmals in eine parlamentarische Demokratie zu verwandeln. In struktureller, institutioneller und kategorialer Hinsicht waren dies beträchtliche Errungenschaften. Aus zeitgenössisch-gesellschaftlicher Perspektive sollte sich aber bitter rächen, dass mit den politischen Umbrüchen kein legitimierender, kraftvoller Gründungsmythos, sondern vielmehr ein gehöriges Maß an hartnäckiger Dissensstiftung verbunden war.

      Schon ein Jahr nach der Revolution notierte der einst so euphorisierte Theodor Wolff nüchtern: „Aber man sollte sich auch klar darüber werden, daß doch eigentlich erst die Revolution, so getrübt ihre Sonne auch aufging, dem deutschen Volke die Rechte und die schweren Pflichten mündiger Nationen gesichert hat. Das sollte man zugeben, auch wenn man ihr den festlichen Erinnerungskranz versagt.“71 Eine spätere erinnerungspolitische Wende – wie im Falle anderer erfolgreicher Revolutionen – trat im Übrigen nicht ein. An sich ist es nämlich mit Blick auf Systemwechsel allgemein keineswegs ungewöhnlich, dass auf die Euphorie des Anfangs Phasen der „Ermüdung und Enttäuschung“72, der Skepsis und Distanz folgen, in denen strukturelle wirtschaftliche, soziale und soziokulturelle Blockaden erkannt und in den Mittelpunkt gestellt werden. Doch während der Weimarer Jahre verstärkte sich der Kampf um die Symbole und den richtigen nationalen Feiermodus eher noch.73

      Wie fällt nun die Bilanz zu den vielförmigen und vieldeutigen Vorgängen des langen November 1918 aus der Perspektive des politischen Systemwechsels aus? Die tieferen Ursachen für das Ende der alten politischen Ordnung lagen in zahlreichen Ambivalenzen und Widersprüchlichkeiten des deutschen Kaiserreichs begründet, die unter dem Druck des Ersten Weltkriegs in eine Systemkrise führten. Mit Blick auf seine Verlaufsformen entspricht dieser Systemwechsel einem stark gemischten Typus. Es lassen sich Ansätze für eine evolutionäre Demokratisierung finden, berücksichtigt man das allgemeine Wahlrecht, Vorgänge einer schleichenden Parlamentarisierung und vielfältige rechts- und verfassungsstaatliche Strukturen, aber auch industriegesellschaftliche Kontinuitäten seit dem Kaiserreich, auf die besonders früh und energisch schon Eduard Bernstein und dann Richard Löwenthal mit seiner Formel vom „Anti-Chaos-Reflex“ hingewiesen hatten.74

      Es lassen sich ebenso Argumente für einen von den alten Regimeeliten gelenkten Systemwechsel finden, berücksichtigt man das Engagement der Obersten Heeresleitung, aber auch das hohe Maß an Kontinuität zwischen dem Parteiensystem des Kaiserreichs und der Weimarer Republik, das in der Arbeit des Interfraktionellen Ausschusses deutlichen Ausdruck fand. Wer nicht von einer „Lenkung“ sprechen will, muss zumindest ausgeprägte Züge eines zwischen alten und neuen Eliten ausgehandelten Systemwechsels in Rechnung stellen. Und doch gestaltete sich die „heiße“ revolutionäre Phase im November 1918 als ein von unten forcierter Systemwechsel, der sich erst aufgrund des Regime-Kollapses und der aus massiver Erschöpfung geborenen Friedenssehnsucht am Ende des Ersten Weltkriegs entfalten konnte. Diese Melange der Ursachen und Verlaufsformen verweist auf einen Mangel an Eindeutigkeit, der die weitere Transformation hin zu einer funktionierenden Demokratie belastete, aber keineswegs von vornherein zum Scheitern verurteilte.

      Die Transition in institutioneller, verfassungsrechtlicher sowie politisch-ideologischer Hinsicht verlief unterschiedlich erfolgreich. Die ersten beiden Komponenten wurden von der Weimarer Republik durchaus erfüllt, und dies sollte nicht gering geschätzt werden, indem man eine überhöhte normative Erwartungshaltung an jene frühe Phase der Revolution und eine junge, im Grunde unerfahrene Regierung unter titanischem Problemdruck anlegt. Mit diesem fragwürdigen Richtmaß ging bald eine Aberkennung des Ehrentitels „Revolution“ einher. Die „wirkliche“ Revolution galt vielmehr gerade unter „freischwebenden“ Intellektuellen als noch anzustrebender Sehnsuchtsort. Zeitgenössische Stimmen aus dem rechts- wie linksintellektuellen Milieu lassen sich für diese skeptische Sichtweise zum Beleg leicht anführen. Autoren wie Spengler oder Moeller van den Bruck setzten auf eine „konservative Revolution“ und einen „preußischen“ oder „deutschen Sozialismus“,75 während ein Autor wie Kurt Tucholsky mit viel Wortwitz das Auseinandertriften von „Ideal und Wirklichkeit“ der neu geschaffenen politischen Ordnung beklagte und hartnäckig in Frage stellte, dass überhaupt eine Revolution stattgefunden hatte.76

      So unterschiedlich die Motive waren, waren sich rechte wie linke Kritiker doch nicht nur in der Missbilligung der tatsächlichen Revolution von 1918/19 einig, sondern sie erweiterten diese Kritik um ein Verlangen nach Revolution an sich. Dies gab gleichsam einer doppelten Verschiebung der Revolution Ausdruck: hier als noch nachzuholend in der Zukunft und in gewisser Weise als Vollendung der Novemberrevolution gedacht, dort unter völlig gewandelten Vorzeichen als „konservative“ oder „nationale Revolution“ gefordert, dabei nicht zuletzt von Nationalsozialisten in diametralen Gegensatz zur Novemberrevolution gesetzt. Dies deutet bereits darauf hin, dass die Verwirklichung des weiteren Systemwechsel-Aspekts letztlich misslang oder wenigstens steckenblieb: nämlich die Etablierung einer der parlamentarischen Demokratie aus Überzeugung gewogenen politischen Deutungskultur, wodurch erst der längerfristige Erfolg einer gesamtstaatlichen Demokratisierung im Übergang von einem autoritären zu einem demokratischen politischen System ermöglicht wird. Früh erkannte im Übrigen Ernst Troeltsch, wie wichtig neben der parlamentarisch-demokratischen Staats- und Institutionenordnung die Herausbildung einer „geistigen Revolution“ und einer auf liberalen Werthaltungen beruhenden öffentlichen Meinung sei.77 Durch sie gelinge es erst – so die mit dem Systemwechsel-Ansatz übereinstimmende Einsicht –, Demokratien krisenfest gegen autoritäre Kehrtwenden zu machen. Der politisch-ideologische Wandel verlief nicht dergestalt, dass damit eine breite Akzeptanz der neuen Ordnung, ihrer Prozeduren, Spielregeln und normativen Grundlagen einhergegangen wäre. Eine „zivilgesellschaftliche“ politische Kultur als beste Immunabwehr gegen Systemkrisen in der Demokratie bildete sich nur ungenügend aus. Es mangelte aber nicht von vornherein und allerorten an Versuchen dazu.

      

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