Der Tod setzt Segel. Robin Stevens

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Der Tod setzt Segel - Robin Stevens Ein Fall für Wells & Wong

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meine Familie völlig vergessen hatte, wurden die Türen zur Hotellobby von den Portieren geöffnet und meine kleinste Schwester May flitzte herein, schlitterte über den polierten Marmorboden und ruderte vor Aufregung mit den Armen.

      Der Hauch-des-Lebens würde warten müssen.

      »GROSSE SCHWESTER!«, schrie May, huschte um mehrere erschrockene Hotelgäste in Abendgarderobe herum und stürzte sich auf mich, um sich absolut begeistert an meiner Taille festzuklammern. Ich beugte mich nach unten, um sie zu umarmen – sie duftete nach Reise, Schmutz und May, ein heller Geruch, ein bisschen wie von Orangen –, und sie schaute zu mir hoch und schrie: »Ich bin jetzt SECHS, Große Schwester! SECHS!«

      »Du bist schon so groß, Äffchen«, sagte ich lächelnd zu ihr.

      »Rose und Vater und Pik An kommen auch, nur sind sie LANGSAM«, erklärte May. »Das Schiff hat so lange gebraucht, Hazel. Rose hat sich gelangweilt, aber Rose ist ja auch langweilig und will immer nur Bücher lesen, also kein Wunder. Ich habe mich gar nicht gelangweilt – ich habe Piratin gespielt und bin über die Brücke gesaust, um sie zu kapern – nur hat mich der Kapitän ausgelacht und mich zum Tee eingeladen. Und dann durfte ich kurz das Schiff steuern!«

      Als ich aufblickte, stand da meine mittlere Schwester, Rose, in einem geblümten Reisekleid. Elegant und neugierig wirkte sie. Ihr Haar war sorgsam geflochten und hinter ihr schnaufte unter einem Berg von Koffern ihre Magd Pik An. Sie nickte mir zu und ich winkte ihr. Ich freute mich riesig, sie zu sehen.

      »Hazel, du siehst so alt aus, wie eine Erwachsene. Wirklich wahr –«

      »Ach, sei still, Äffchen«, sagte ich, gab ihr einen zärtlichen Schubs und fand mich dann auch in Roses Umarmung wieder, die etwas steif ausfiel – oder vielleicht war auch ich diejenige, die schüchtern war. Sie hielt eins ihrer Lieblingsschulgeschichtenbücher in der Hand, das mich pikte, als ich sie drückte.

      »Hallo, Wong Fung Ying«, sagte mein Vater. Als ich aufsah, streckte er in einem Nadelstreifenanzug mit glänzend goldenen Manschettenknöpfen seine vertrauten, kantigen Hände mit den dicken Knöcheln nach mir aus.

      »Hallo, Vater«, sagte ich, ebenso schüchtern wie Rose.

      »Es ist schön, dich zu sehen, Hazel«, sagte mein Vater – und da begriff ich, dass er sich nicht über mich ärgerte, kein bisschen. Im nächsten Moment blieb mir beinahe die Luft weg, als ich an seiner Brust klebte, so fest, wie May mich umarmt hatte.

      »Ich habe dich vermisst, Vater«, sagte ich etwas gedämpft.

      »Ich dich auf, mein liebes Mädchen«, erwiderte mein Vater – und gleich aus mehreren Gründen bekam ich deswegen ein schrecklich schlechtes Gewissen. »Aber nun erzähl, wie läuft es an der Schule? Bekommst du die bestmöglichen Noten? Soweit ich mich erinnere, hast du im Sommer keine Auszeichnung erhalten, und ich hätte gerne gewusst, warum.«

      Und während May uns alle hinaus zu den Wagen schleppte, die darauf warteten, uns zum Abendessen zu den El Maghrabis zu bringen, blickte ich noch einmal zum Hauch-des-Lebens und ging davon aus, sie zum letzten Mal gesehen zu haben.

      Selbstverständlich sollte ich mich ordentlich täuschen.

      6

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      Am Tag danach brachen wir auf zum Nil.

      Man fuhr uns in zwei der schicken schwarzen Wagen von Aminas Eltern zum Bab-al-Hadid-Bahnhof, wo wir von Lärm, Staub und sengender Sonne empfangen wurden. Kofferträger mit Turban und Dschallabija eilten hin und her, unsere Koffer alarmierend hoch gestapelt (mein Vater und meine Schwestern waren nicht gerade mit leichtem Gepäck unterwegs), während Pik An und Miss Beauvais sie anflehten, vorsichtig zu sein. Ich sah mir die gigantische Steinstatue an, die auf dem Bahnhofsvorplatz stand. Es war ein Wesen mit Löwenpfoten und einem Menschenkopf, eingerahmt von einem enormen Kopfschmuck, das neben einer Frau kauerte, die stolz in die Ferne blickte und einen Arm hob, um das Tuch aus ihrem Gesicht zu heben. Ich fand es wunderschön, wenn auch sehr merkwürdig.

      »Nahdet Misr«, sagte Mr El Maghrabi mit einem Wink zur Statue. »Ägyptens Vergangenheit – die Sphinx – und seine Zukunft: seine Frauen. Amoona, Habibti, vergiss nicht, den Mädchen von deiner Geschichte zu erzählen. Sei stolz darauf!«

      »Ja, Baba«, sagte Amina, ausnahmsweise mit ernstem Gesicht. »Das werde ich.«

      Von Bab al-Hadid aus nahmen wir den Nachtexpress nach Luxor. Als die Sonne unterging, schaute ich aus dem Zugfenster und sah Rechtecke aus saftigem grünen Gras und hohem, spitzem Zuckerrohr, flankiert von Palmen mit dunklen Wedeln und schmalen Wasserläufen, die den Himmel reflektierten. Neben Lehmhäusern standen Kühe und Esel und davor saßen Menschen mit angezogenen Knien und baumelnden Armen, die lachten und sich unterhielten. Der Himmel war rosa, zitronengelb und cremeorange, ruhig, mit nur wenigen Klecksen dunkler Wolken.

      Der Zug war nahezu leer. Während wir auf das Abendessen warteten und darauf, dass unsere Schlafwagenabteile bereit gemacht wurden, hatten wir einen ganzen Waggon für uns allein. May baute unter den Sitzen ein Fort und platzte von Zeit zu Zeit hervor, um uns als uraltes Seemonster anzugreifen (Pik An musste überrascht spielen). Rose las Millie aus der zehnten Klasse, mein Vater löste ein Kreuzworträtsel, Miss Beauvais schnarchte und Daisy tigerte ruhelos hin und her. Ich wusste genau, dass sie an unsere letzte gemeinsame Zugreise denken musste und daran, was während dieser Fahrt passiert war.

      »Bist du schon aufgeregt?«, fragte Amina leise und sah mich von der Seite an. In Ägypten war ihr Haar sogar noch glänzender und so prächtig wie nie, außerdem trug sie einen unglaublich hinreißenden Reiseanzug und einen kleinen Hut mit Schleier, so wie ihn alle ägyptischen Frauen zu tragen schienen.

      »Ja!«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Alles war so fremd und wundervoll. Obwohl ich durch Aminas Augen immer wieder Ausschnitte des wahren Ägyptens sah, eines Landes, in dem sich die Menschen selbstverständlich ebenso um langweilige, gewöhnliche Dinge wie Hausaufgaben und Zugfahrkarten kümmern mussten, war es mir unmöglich, das Gefühl abzuschütteln, in eine Geschichte eingetaucht zu sein, als wäre ich einmal quer durch Zeit und Raum gepurzelt. Ich hatte die ganz seltsame Überzeugung (vielleicht ging mir dabei einmal mehr der Hauch-des-Lebens durch den Kopf), dass ich jeden Moment den jungen König Tutanchamun erblicken könnte, kränklich und doch herrschaftlich, gleich neben mir im Waggon – oder dass sich die Frau, die ich im nächsten Waggon schreien hörte, als die Pharaonin Hatschepsut herausstellen könnte, deren Augen (in meiner Vorstellung so durchdringend und schlau wie die von Amina) mit Kajal dunkel und dick bemalt waren, und mit einem kleinen Holzbart, der mit einer Schnur am Kinn festgebunden war.

      »Ich kann es nicht erwarten«, sagte Amina. »Ich habe das noch nie gemacht, zumindest keine richtige Kreuzfahrt. Dafür kenne ich all die Geschichten. Das meinte Baba auch, als er sich verabschiedet hat – er will, dass ich dafür sorge, dass ihr die wahren Geschichten zu hören bekommt. Manchmal erzählen sie sie den Leuten aus dem Westen nicht richtig.«

      Ich atmete den bloßen, heißen Geruch des Waggons ein, außerdem den Geruch von Schweiß und Aminas Parfüm, das so luftig und hübsch war wie sie.

      »Warum haben dich deine Eltern auf die Deepdean geschickt?«, fragte ich. »Hat Miss Beauvais nicht gereicht?«

      »Miss Beauvais ist ziemlich nutzlos, wenn man mal ehrlich ist«, erklärte Amina mit einem Blick zu ihrer schlafenden Gouvernante. »Wir behalten sie nur, weil Sachen aus Frankreich gerade in Mode sind. Ich habe Baba gesagt,

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