Mord in Switzerland. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Mord in Switzerland - Группа авторов страница 6

Mord in Switzerland - Группа авторов

Скачать книгу

Dieselben weichen, klaren Formen, dieselbe Bearbeitung, die den harten, kalten Stein weich, warm, seidig scheinen liess. Plötzlich stand sie vor einem gehörnten, zähnefletschenden Wesen aus glänzendem grauem Stein, das sie an eine Figur aus dem Kinderbuch «Wo die wilden Kerle wohnen» erinnerte. Ein wilder Kerl? Nein, ein Inukshuk. Ein Wie-ein-Mensch. Diese Statuen, las sie, dienten als Wegweiser, wie die Steinmannli in den Schweizer Alpen. Sie wurden bei der Jagd eingesetzt und manchmal auch in leeren Behausungen zurückgelassen. Als Platzhalter. Hüter des kalten Herdes.

      «Ich war hier», sagte der Wie-ein-Mensch. «Auch wenn ich jetzt weg bin: Ich war hier.» Lange hatte sie vor dem Glaskasten gestanden und sich vorgestellt, sie könnte dieses zähnefletschende Ding mit nach Hause nehmen und an ihre Stelle setzen. Es würde endlose Sitzungen und Besprechungen für sie aushalten und Jonas zuhören, wenn er sich über die lähmende Wirkung beklagte, die ihre Ehe auf seine Kreativität habe.

      Die Idee liess sie nicht mehr los. Plötzlich begegnete sie ihr überall. Sie hing in der Luft.

      Gespräche im Freundeskreis drehten sich um die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit der modernen Existenz, überall gleichzeitig zu sein, in allen Zeitzonen vertreten, die unterschiedlichsten Rollen gleichzeitig ausfüllend. «Wenn man sich bloss klonen könnte!» Jemand schenkte ihr ein Buch über einen Schriftsteller, der gleich sieben Doppelgänger auf Lesereise schickte. Sie zappte sich durch das Spätabendprogramm und blieb bei einer Anwaltserie hängen, in der die Beziehung eines Mannes zu einer erstaunlich lebensechten Sexpuppe legalisiert wurde, mit der er glücklicher war als mit jeder lebenden Frau. Wenig später las Amanda einen Artikel über die Firma in Japan, die diese qualitativ hochstehenden Sexpuppen herstellte. Puppen, die aus hautähnlichem Material und nach menschlichem Vorbild gestaltet wurden, auf Wunsch und gegen einen Aufpreis nach Fotos und exakten Massen: Wie-ein-Mensch.

      Sechs Wochen dauerte es, bis die Puppe geliefert wurde. Sechs Wochen lang beobachtete Amanda ihren Mann. Sie sah noch einmal alles, was sie an Jonas geliebt hatte. Seine Unverschämtheit, sein schiefes Grinsen, seine schmalen Hüften. Die Art, wie er durch Menschen hindurchschaute. Wie er sich bewegte.

      Wie wenn man sich zum Haareschneiden anmeldet, dachte sie etwas respektlos. Kaum hat man einen Termin, sitzen die Haare wieder perfekt. Wollte sie das Ende ihrer Ehe wirklich mit dem Kappen ihrer Haarspitzen vergleichen? Sie wartete auf ein Zeichen. Eine Annäherung. Es passierte nichts. Jonas fuhr ohne sie nach Paris und dann direkt in ihr Haus in den Bergen.

      Die Puppe wurde in der versprochenen neutralen Verpackung geliefert. Sie war leicht. Viel leichter als ein Mensch. Erst recht einer aus Stein. Aber sie fühlte sich tatsächlich an wie ein Mensch, weich, trocken, warm. Amanda wickelte sie in ihr Lieblingskleid und legte ihr den bunten Seidenschal um, den Jonas ihr vor Jahren geschenkt hatte. Dann setzte sie ihre Stellvertreterin auf ihren Lieblingsplatz auf dem Sofa, legte ein ART-Magazin in ihren Schoss, strich ihre Haare zurück, fuhr ihr mit einem Finger über die Wange.

      Plötzlich musste sie lachen. Jonas würde verstehen, was sie gemeint hatte. Er war vielleicht der einzige Mensch auf der Welt, der diese verrückte Geste nachvollziehen konnte. Er würde richtig reagieren.

      Amanda stellte sich vor, wie er mit ihrer Stellvertreterin im Schlepptau nach Kanada reiste – er würde ihr selbstverständlich einen Sitzplatz reservieren und ihr einen Drink bestellen und sich über die Blicke der anderen Passagiere amüsieren. Vielleicht würde er einen Film drehen. Und er würde sie finden. Sie würden sich wieder finden.

      «Stattdessen hat er mich umgebracht.»

       Aarau, vor über einer Woche

      Es dämmerte schon, als Gisiger nach Hause kam. In der Wohnung war es still. Ohne das Licht einzuschalten, ging er in die Küche. Vor dem Fenster der Wald. Zwischen den Bäumen floss die Aare, er konnte sie nicht sehen, aber er wusste, dass sie da war. Er schaute zu, wie sich die letzten Reste der Nacht auflösten. Nebel hing in den Ästen der Bäume. Der Tag war noch nicht so weit.

      Das Licht ging an und verwandelte das vorhanglose Küchenfenster in einen wandbreiten Spiegel. Die verschlafene Landschaft verschwand, dafür sah er jetzt sich. Die hängenden Schultern, den Bauch, das Bier. Hinter ihm tauchte Helen auf. Sie trug eines seiner T-Shirts, ein weisses. Es reichte nicht ganz bis zu ihren Oberschenkeln. Gisiger zog automatisch seinen Bauch ein, aber er drehte sich nicht um.

      «Siehst du mich?», fragte er. «Helen, siehst du mich?»

       TOD BEI GAIS

      FELIX METTLER

      Schleierwolken bedeckten den Himmel, dennoch hatte Valerie eine dunkle Brille auf. Sie ging der Hauptstrasse entlang – in der rechten Hand fünf weisse Rosen. Mit der linken strich sie immer wieder ihr langes schwarzes Haar zur Seite, das ihr der Fahrtwind der vorbeibrausenden Autos ins Gesicht wehte. Das Ortsschild von Gais hatte sie vor wenigen Minuten passiert, als sie bei der gesuchten Stelle ankam. Diese war nicht zu übersehen: Zwei Laternenmasten waren geknickt, das Geländer der schmalen Brücke, die zu einem Bauernhof führte, teilweise weggerissen. Hinunterschauen zum Rotbach, wo sich der zerschellte Wagen möglicherweise immer noch befand, mochte Valerie nicht. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie ihren Strauss zu den bereits vorbeigebrachten Blumen legte. Auch zwei rote Kerzen standen da. Von wem sie wohl stammen?, fragte sich Valerie. Kennengelernt hatte sie Philipp vor zwei Jahren in Teufen bei einem morgendlichen Kaffee. Da keine Zeitung mehr verfügbar gewesen war, hatten sie sich eine geteilt. Das war der Beginn ihrer Freundschaft gewesen. Obwohl nie eine nähere Beziehung zwischen ihnen entstanden war, hatten sie vertrauensvoll auch über private Dinge gesprochen. Sie waren einfach füreinander dagewesen. Dass dies nun Vergangenheit war, wollte Valerie nicht wahrhaben.

      Einem Bericht der Appenzeller Zeitung war zu entnehmen, dass man rätselte, weshalb der Wagen von der Strasse abgekommen sei. Es hatten gute Verhältnisse geherrscht, und nach der Aussage des nachfolgenden Fahrers habe es an jener Stelle keinen entgegenkommenden Verkehr gegeben. Auch soll der Mann – Philipp Angerer – nicht gerast sein, seit Bühler sei der Abstand zwischen ihnen gleich geblieben. So wurde ein technischer Defekt in Betracht gezogen, doch auch eine Fehlmanipulation des Fahrers konnte nicht ausgeschlossen werden. Für unwahrscheinlich hielt man einen Sekundenschlaf, zumal der Unfall am Morgen auf dem Arbeitsweg nach Appenzell – Angerer lebte in Teufen – geschehen war.

      Er könnte einer Katze ausgewichen sein, dachte Valerie. Sie wusste um Philipps Tierliebe. Dass er, wie sie in der Zeitung gelesen hatte, nicht angeschnallt war, verwunderte sie nicht. Bei gemeinsamen Fahrten hatte sie ihn gelegentlich auf die Gurten aufmerksam gemacht.

      Kurz nachdem sich Valerie auf den Rückweg nach Gais gemacht hatte, fuhr ein Polizeiwagen langsam an der Unglücksstelle vorbei. Wachtmeister Pirmin Köchli, seit zwölf Jahren im Polizeidienst, schüttelte den Kopf. «Unverständlich», murmelte er vor sich hin. Köchli war vor kurzem vierzig geworden. Er hatte einen kantigen Kopf mit kurzem, dunklem Haar und war von sportlicher Gestalt.

      «Hast du ihn gekannt?», fragte sein Kollege, Gefreiter Edi Tobler, der neben ihm sass. Er war jünger, rotgesichtig, untersetzt und mit deutlichem Bauchansatz.

      «Wir haben uns gelegentlich im Fitness-Center getroffen und auch mal in der Garderobe miteinander geplaudert.» Nach kurzem Schweigen fügte Köchli hinzu: «War ein feiner Kerl.» Es klang wie ein Seufzer.

      «Er soll Arzt gewesen sein.»

      «Ja! Er hat an der Privatklinik

Скачать книгу